Alle Wege führen nach Rom
: Leben in der heiligen Hölle

Schon vor 700 Jahren stöhnten die Römer über die Pilgerplage

Eine dichte Menge drängt sich vor den Stadtmauern des mittelalterlichen Roms: Soldaten, Prälaten in Scharen, Könige mit ihrem Gefolge, Ritter zu Pferde, Bischöfe und Kardinäle. Vor allem aber sie: die „Romapedae“, die per pedes aus allen Teilen Europas zum Grabe Petri angereisten Pilger. Fast uniformiert wirken sie in ihrer immer gleichen Kleidung, in den langen Umhängen mit weit geschnittenen Ärmeln, den hohen Stiefeln, breitkrempige, unter dem Kinn verknotete Hüte auf dem Kopf, Proviantbeutel und einen langen Stock in der Hand.

Fast wie in einem Comicstrip erzählt der „Giovanni Sercambis Codex“ von 1300 in 140 Aquarellzeichnungen den frommen Ansturm auf Rom anlässlich des damals zum ersten Male zelebrierten Heiligen Jahrs. Der Bildband gehört zu den 250 Stücken, die in der Ausstellung „Rompilger und Heilige Jahre. Die Pilgerfahrten zu Sankt Peter von 350 bis 1350“ zu sehen sind: mittelalterliche Texte, Fresken und Gemälde, Heiligenreliquien und Silberplaketten. Eine Ausstellung, die nicht zuletzt den Römern den Vergleich mit der Gegenwart des Heiligen Jahres 2000 ermöglicht.

Die theologische Debatte, ob es die Hölle nun wirklich gebe, sei doch längst entschieden, bemerkte jüngst ein italienischer Kommentator: täglich könne man sie besichtigen, rund um den Vatikan, im Inferno der Staus, der Abgase, des Verkehrslärms. Die Ausstellung liefert – wenn auch ungewollt – den historischen Hintergrund. Es brauchte weder Papstaufrufe im Fernsehen noch moderne Reisebusse, um die frommen Fahrensleute im Übermaß nach Rom zu locken. „Als ich an Heiligabend aus der Stadt hinaustrat, sah ich eine ungeheure Menschenmenge“, berichtete ein mittelalterlicher Chronist. Die Herbergen konnten den Ansturm nicht fassen, sodass die Römer gezwungen waren, Pilger in Privathäusern unterzubringen.

Doch dass die Römer über die „Infestatio peregrinorum“, über die Pilgerplage stöhnten, lag nicht nur an deren großer Zahl. Statuen und Reliquien verschwanden zuhauf aus den Kirchen, mitgenommen als Reiseandenken. Schon damals auch klagte man über die Unsitte der Pilger, sich mit Graffiti auf den Monumenten zu verewigen. Dann gab es noch die „falschen Pilger“: Huren, Taschendiebe und Betrüger, die sich unter die Gläubigen mischten. Eine Tradition übrigens, die bis heute ungebrochen fortlebt; der 64er-Bus, der Roms Innenstadt mit dem Vatikan verbindet, ist nicht umsonst die unter Roms Taschendieben beliebteste Linie.

Wenigstens eine Tradition allerdings ist zum Erliegen gekommen: Die schlimmsten Sünder, Kinds- und Priestermörder, des Inzests oder des Sakrilegs Schuldige werden nicht mehr zum Bußetun auf Romreise geschickt. Und auch die galanten Ritter wurden nicht mehr gesehen, die das asketische Erlebnis mit manch eher irdischem Genuss auflockerten. Nicht umsonst waren sie ein bevorzugtes Ziel der Satire; so erzählt der Codex „Roman de Renart“ von einem Fuchs auf Pilgerreise, der beim Papst Abbitte leistet für die von ihm erlegten Hühner. Die Kirche trug's gelassen – der Pilger interessierte sie vor allem als Einnahmequelle. So erfahren die Besucher der Ausstellung nicht zuletzt, dass das Merchandising keineswegs in Amerika erfunden wurde. T-Shirts mit der Aufschrift „Vatikan“ gab's damals zwar noch nicht, doch schon vor hunderten von Jahren konnten die aufs Paradies erpichten Romfahrer sich mit Gedenkmünzen oder Silberplaketten eindecken. Marina Collaci

„Romei e Giubilei. Il pellegrinaggio medievale a San Pietro (350 – 1350)“ ist im Palazzo Venezia bis zum 26. Februar 2000 zu sehen