Im Schatten der großen Flut

Das Haus von Alejandra Iriarte und Oscar Blanco blieb von der Flutkatastrophe in Venezuela verschont. Am 21. Dezember kamen Soldaten. Seitdem ist Oscar Blanco spurlos verschwunden ■ Aus Vargas und Caracas Toni Keppeler

Der Grat zwischen Wut und Verzweiflung ist zu schmal für Alejandra Iriarte. Immer wieder stürzt sie ab. Mal haut sie mit der Faust auf ihren groben Tisch: „Diese Nichtsnutze von der Polizei. Schützen sollten sie uns vor den Plünderern. Dabei haben sie selbst alles mitgenommen, was sie kriegen konnten.“ Und dann sinkt sie in sich zusammen und heult wie ein allein gelassener neugeborener Hund. „Sie sollen mir meinen Oscar wieder geben. Wenigstens seine Leiche will ich haben.“

Alejandra Iriarte, eine 34jährige stämmige Mulattin mit kurzgeschorenem schwarzem Haar, wohnt im Viertel Valle del Pino in Los Corales. Den Ort an der Küste im Norden von Venezuela gibt es heute nur noch zur Hälfte. Los Corales liegt mitten im Katastrophen-Staat Vargas, wo am 15. und 16. Dezember vergangenen Jahres Schlamm- und Geröll-Lawinen rund 400 staatlich gezählte und tausende von ungezählten Menschen verschüttet haben. Die Schätzungen über die Zahl der Toten gehen bis hinauf zu 50.000.

Ihr Haus steht etwas höher – die Flut kam nicht ran

An jenen beiden Tagen hatten Alejandra Iriarte und ihr 39jähriger Mann Oscar Blanco Glück. Sie überlebten. Zwar ist ihr Ziegelsteinhäuschen im Callejon Romero genauso wie alle anderen im Valle del Pino an den steilen Hang des über 2000 Meter hohen Avila-Massivs geklebt, das die Hauptstadt Caracas von der Küste im Norden trennt. Aber es steht etwas höher als die anderen. Nicht drunten in der Schlucht, durch die gleich mehrere Lawinen rasten.

Nach Schlamm, Geröll und entwurzelten Bäumen kamen die Plünderer. Der Weg hinauf nach Caracas ist mit improvisierten Slums gepflastert. Dort leben viele arme Schlucker, die in der Katastrophe eine Chance sahen und herunter an die verwüstete Küste kamen. Kein Einkaufszentrum und kein Strandhotel, das nicht geplündert wurde. Aber auch die Hütten der Armen. Wenigstens einen Fernseher kann man dort immer mitnehmen. Die Armee schritt ein.

Noch heute ist die Katastrophenzone, ein vielleicht sechzig Kilometer langer und zehn Kilometer schmaler Küstenstreifen, militärisches Sperrgebiet. Besucher brauchen eine Genehmigung der Nationalgarde. Hubschrauber haben Flugblätter abgeworfen, in denen die Bewohner aufgefordert werden, nach 19 Uhr ihre Häuser nicht mehr zu verlassen. Doch niemand hat je den Ausnahmezustand erklärt. Nie wurde eine Ausgangssperre verhängt. Nach Naturkatastrophe und kriminellem Chaos herrscht nun militärische Willkür, und Alejandra Iriarte ist sich nicht sicher, welches der drei Übel das schlimmste ist.

Um zu ihrem Haus zu kommen, muss man über Baumstämme und mannshohe Gesteinsbrocken klettern. Von den Häusern ganz unten in der Schlucht ist nichts mehr zu sehen. Die in der zweiten Reihe stehen fast bis zum Dachfirst in festgebackenem Schlamm. Weil das Haus von Alejandra Iriarte, Oscar Blanco und ihren vier Kindern in der dritten Reihe steht, blieb es verschont. Eine Ein-Zimmer-Hütte aus Ziegelsteinen, vielleicht fünfzehn Quadratmeter groß.

Am 21. Dezember, so gegen halb drei Uhr am Nachmittag, kam eine Gruppe von Fallschirmspringern zu diesem Haus. „Ich weiß, dass es Fallschirmspringer waren,“ sagt Iriarte. „Sie hatten Tarnanzüge an und rote Käppis auf.“ Derselbe Aufzug, mit dem sich der ehemalige Fallschirmspringer-Oberst und heutige Präsident Hugo Chávez gerne bei öffentlichen Auftritten zeigt. „Wie waren gerade mit dem Mittagessen fertig. Oscar war da, meine vier Kinder und meine Mutter.“ Die Soldaten, erzählt sie, hätten einfach die Tür eingeschlagen und geschrien: „He du da, raus!“ Damit war Oscar Blanco gemeint. Ihr Anführer habe gesagt: „Macht diese Scheiße hier nieder.“ Dann hätten sie alles auf den Kopf gestellt.

„Sie sagten, sie würden nach Waffen suchen. Aber sie haben keine gefunden, weil es keine gibt. Dafür haben sie das Handy von Oscar mitgenommen.“ Kurz vor Einbruch der Dunkelheit sei eine Gruppe der politischen Polizei DISIP zu den Fallschirmspringern gestoßen, und die hätten ihren Mann mitgenommen. „Ich fragte sie noch, wo sie ihn hinbringen werden. Und sie sagten: Den lassen wir gleich wieder frei. Hier wird niemand festgenommen.“ Seither ist Oscar Blanco verschwunden.

Alejandra Iriarte war an den Tagen danach in den Militärstützpunkten Catia La Mar und Maiquetía und im Operationszentrum der DISIP, das auf dem Golfplatz eines Hotels eingerichtet worden war. Nirgendwo wollte jemand von dem Verschwundenen gehört haben. „Ich weiß, dass Oscar kein Engel war“, sagt seine Frau. „Er war ein paarmal im Knast wegen kleinerer Drogengeschäfte. Er war ja selbst abhängig von dem Zeug. Aber so geht man mit einem Menschen nicht um.“

Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Provea trauten zunächst ihren Ohren nicht, als sie solche Erzählungen hörten. Sie waren wie viele andere Freiwillige in den Katastrophen-Staat Vargas geeilt, um zu helfen. „Wir wollten Verschüttete ausgraben und eine Dokumentationsstelle aufbauen, über die Opfer nach ihren vermissten Angehörigen suchen können“, erzählt Provea-Sprecher Antonio González. Aber dann blieben die Organisation doch auf ihrem ureigenen Gebiet und dokumentierte Menschenrechtsverletzungen.

Verschwindenlassen und Massenhinrichtungen

Innerhalb von nur drei Tagen sammelte Provea zwölf Fälle: Erschießungen mutmaßlicher Plünderer, Festnahmen und Verschwindenlassen. Ein mutmaßlicher Vergewaltiger soll von Soldaten zu Tode geprügelt worden sein. Neben der politischen Polizei DISIP und Fallschirmspringer-Einheiten werden die Nationalgarde und die paramilitärische Hauptstadtpolizei als Täter genannt. Bei den Verschwundenen fällt auf, dass die DISIP-Einheiten offenbar gezielt polizeibekannte Kleinkriminelle mitnahmen.

Das „Komitee der Angehörigen der Opfer des 27. Februar“, eine Menschenrechtsorganisation, die 1989 nach der blutigen Niederschlagung einer Sozialrevolte gegründet worden war, verfolgt inzwischen zwanzig Fälle sogenannter „außergerichtlicher Hinrichtungen“. Der staatliche Ombudsmann Roger Cordeño spricht von „der Hinrichtung von mehr als 60 Personen“. Die Namen seiner Zeugen nennt er nicht. „Wir wollen nicht in die Lage kommen, sie in ausländische Botschaften ins Asyl bringen zu müssen.“

In der Hauptstadt Caracas balanciert Präsident Hugo Chávez auch auf dem schmalen Grat zwischen Wut und Verzweiflung. Doch er schwankt nur, er fällt nicht. Als Anfang des Jahres der vorläufige Provea-Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Vargas veröffentlicht wurde, packte ihn die Wut. Das Papier sei ein „verdächtiges“, „oberflächliches“, ja „unverantwortliches“ Machwerk. Alle Welt wisse, dass seine Regierung „ein entschiedener Verteidiger der Menschenrechte“ sei. Luis Miquilena, engster Chávez-Berater und Präsident der Verfassunggebenden Versammlung, nannte Berichte über diese Vorfälle „die Erfindung von ein paar Leuten“ und eine „journalistische Kloake“. Die Reporterin Vanessa Davies von der Tageszeitung El Nacional, die als freiwillige Katastrophenhelferin zufällig eine solche „außergerichtliche Hinrichtung“ beobachtet und darüber geschrieben hatte, bekam eine Vorladung der politischen Polizei.

Doch lange ließ sich das Bild von den böswilligen Menschenrechtsorganisationen und Journalisten nicht aufrecht erhalten. Chávez muss nahe an der Verzweiflung gewesen sein, als er fünf Wochen nach der Katastrophe Jesus Urdaneta, den Chef der politischen Polizei, zum Rücktritt drängen musste. Denn Urdaneta ist ein alter Kampfgefährte des heutigen Präsidenten. Schon Ende der achtziger Jahre konspirierte er mit ihm in den Kasernen. Beim gescheiterten Putsch gegen Präsident Carlos Andrés Pérez am 4. Februar 1992 war er der Chefstratege und wanderte danach zusammen mit Chávez ins Gefängnis.

Urdaneta hatte vor seinem Rücktritt einen Fehler begangen: Er hatte Chávez aufgefordert, seinen Außenminister José Vicente Rangel zu entlassen. Dieser nämlich hatte öffentlich eingestanden, dass Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte durchaus denkbar seien und dass die politische Polizei keinerlei Recht habe, eine Journalistin vorzuladen, die darüber berichte.

Wahrscheinlich hatte Urdaneta zu sehr auf alte Waffenkameradschaft vertraut und nicht gewusst, dass der Präsident selbst seinen Außenminister an die Front geschickt hatte. Nicht zum ersten Mal: Rangel, ein echter lateinamerikanischer Señor mit schütterem weißem Haar und weißem Schnauzer, der als Journalist gegen Menschenrechtsverletzungen angeschrieben hatte, muss immer den Feuerlöscher spielen, wenn Chávez zu sehr gezündelt hat.

„Es wäre überhaupt nicht verwunderlich, wenn es Menschenrechtsverletzungen gegeben haben sollte“, formulierte Rangel diplomatisch. Venezuela habe nun einmal „eine perverse Geschichte der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft“, eine „Kultur der Willkür“ sei „charakteristisch für Diktaturen wie Demokratien“. Durch einen bloßen Regierungswechsel sei das nicht aus der Welt zu schaffen. Er verstehe deshalb auch, dass Zeugen lieber anonym bleiben. „Aber wir müssen diese Angst überwinden.“ Er versprach eine Aufklärung der Vorfälle. Und zwar, wie es sich gehört, durch die Staatsanwaltschaft und nicht durch die politische Polizei. Die Kehrtwende war vollzogen, Urdaneta das Bauernopfer.

Alejandra Iriarte aus Los Corales an der Küste wandte sich an das „Komitee der Angehörigen der Opfer des 27. Februar“, und das wurde inzwischen von einem Staatsanwalt gehört. Der ließ sogar Taucher in den Hafen von Guaira springen, wo aus unerfindlichen Gründen Luftblasen sprudelten. Man vermutete, die politische Polizei habe sich dort der Leichen entledigt. Doch die Taucher gehörten zu einer Spezialeinheit der Armee – sie fanden nichts, was die Luftblasen erklären könnte. Oscar Blanco bleibt verschwunden.

Und Alejandra Iriarte ist sich noch nicht sicher, ob sie außer Wut und Verzweiflung vielleicht auch ein bisschen Hoffnung haben soll.