Die zwei Tode der Silvia Braun

Eine junge Polizistin wird gemobbt. Sie nimmt sich das Leben. Die Staatsanwaltschaft sieht keinen Zusammenhang. Die Eltern sprechen von Mord ■ Aus München Philipp Maußhardt

Wenn Margit Braun wieder einmal „nauf nach München“ muss, nimmt sie nicht die Autobahn. Sie fährt von Herblingen über Friedingen nach Donauwörth und setzt sich dann in den Zug – obwohl das länger dauert.

Würde Margit Braun, 46, die Autobahn nehmen, dann käme sie kurz hinter Augsburg an jenem Parkplatz vorbei, auf dem sich ihre Tochter Silvia am 14. Februar 1999 um vermutlich 0.30 Uhr mit einem Schuss aus ihrer Dienstwaffe tötete. „Ich habe versucht, die Autobahn zu nehmen. Aber ich schaffe das nicht.“

Als an jenem Sonntag vor einem Jahr der Anruf aus München kam, wo denn die Silvia bliebe, sie sei nicht zum Dienst erschienen, da wusste ihre Mutter, „s’ isch was passiert“. Die 22-jährige Polizistin Silvia Braun hatte ihre Mutter schon vor Wochen als Einzige eingeweiht, wie sehr sie unter ihren Kollegen auf der Polizeiinspektion 14 des Münchner Großstadtreviers Milbertshofen zu leiden hatte.

Ihr Schichtleiter Kai Uwe W. und zwei weitere Kollegen hatten sich vom ersten Arbeitstag an einen Spaß daraus gemacht, die junge Polizistin Silvia Braun zu mobben. Protokolle ließ man sie grundsätzlich nachbessern, vor ihren männlichen Kollegen machte Kai Uwe W. sie lächerlich, mal als „Flachzange“ mal als „Bauerntrampel“. Zu Betriebsfeiern wurde sie ausgeladen: „Unerwünscht“, stand auf ihrer Einladung.

Silvia Braun magerte ab, und als man ihr ansah, wie schlecht es ihr ging, grölte der Chef: „Wohl nicht richtig durchgefickt.“ Silvia Braun ging zur Gleichstellungsbeauftragten der Polizei und zum Personalrat. Es wurde alles noch schlimmer. Silvia Braun ging zu einem Nervenarzt. Der riet ihr, einen Versetzungsantrag zu stellen. In einem Brief aus diesen Tagen schreibt sie an sich selbst: „Dieses Sauvolk. Es geht mir von Tag zu Tag schlimmer. Ich glaube, ich werde kündigen.“ Dann erschoss sie sich.

Der Wunsch bei Jugendlichen, zur Polizei zu gehen, steigt in Bayern proportional zur Entfernung von der Metropole. Die jungen, meist ledigen Beamten werden nach der Ausbildung überwiegend in Großstadtreviere versetzt, die bei älteren Kollegen wegen der Dienstzeiten und den Belastungen unbeliebt sind.

Herblingen liegt an der äußersten Landesgrenze Bayerns. „Silvia wollte Friseurin werden oder Polizistin“, sagt ihre Mutter. Sie habe sich für die Polizei entschieden, „weil sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte“. Ihre Ausbildung beendete die sportliche junge Frau mit guten Noten. In ihrer Beurteilung der Münchner Bereitschaftspolizei schlug sie ein Vorgesetzter als Kandidatin für den gehobenen Dienst vor. „Silvia war gerne Polizistin“, sagt ihre Mutter, „sie liebte ihren Beruf.“

Die Probleme begannen am 1. Dezember 1998, als Silvia Braun in die Dienstgruppe A auf der berüchtigten Polizeiinspektion 14 in Milbertshofen eingeteilt wurde. Schon nach den ersten Tagen kam sie nach Dienstschluss „ernst und traurig nach Hause“.

Silvia Braun war dem 32-jährigen Kai Uwe W. zugeteilt worden, einem „Schichtdienstleiter“ aus den neuen Bundesländern, der wegen seiner frauenfeindlichen Sprüche schon mehrfach aufgefallen war. Kai Uwe W., Ex-NVA-Offizier, machte aus seiner Ablehnung gegenüber Frauen in der Polizei keinen Hehl. Offen sprach er in Anwesenheit von Polizistinnen über Methoden, Frauen aus der Polizei zu mobben.

Als der Leiter der Inspektion 14 am Tag nach dem Freitod von Silvia Braun zu Hause in Herblingen fassungslos auf dem Sofa der Familie saß, „da habe ich ihn gefragt“, sagt Margit Braun, „ob er denn nicht weiß, was das für ein Schweineladen ist“. Der gutmütige Inspektionsleiter hatte wohl wirklich keine Ahnung, was auf seiner Inspektion lief. Gekränkt von seiner eigenen Ahnungslosigkeit bat er später um Versetzung in den Innendienst. Das war an jenem Tag, an dem die Hausfrau beschloss, so lange keine Ruhe zu geben, bis die Schuldigen am Tod ihrer Tochter aus dem Polizeidienst entfernt und bestraft sind.

Von dem Moment an, als Margit Braun öffentlich über das Martyrium ihrer Tochter zu reden begann, ahnte man auf dem Münchner Polizeipräsidium wohl, welche Wirkung das haben wird. Und als die ersten Münchner Zeitungen auf den Titelseiten rot unterstrichen druckten: „So wurde meine Silvia gequält“, da richtete Polizeipräsident Roland Koller eine 15-köpfige Sonderkommission ein, die die Vorfälle auf der PI 14 untersuchen sollte. Silvias Schichtdienstleiter Kai Uwe W. wurde beurlaubt, die Schichtkollegen versetzt. Doch mit der offiziellen Untersuchung begann das, was Margit Braun heute „den zweiten Tod meiner Tochter“ nennt. Man versuchte, den Suizid als Verzweiflungstat einer psychisch kranken Frau darzustellen.

Am Wohnort der Brauns in Herblingen bestehen die Telefoneinträge noch aus drei Ziffern. Wer etwas auf sich hält, ist Mitglied im Musikverein und in der CSU. So wie Johann Braun, Silvias Vater, Schichtarbeiter in einer Druckerei, Nebenerwerbslandwirt auf 12 Hektar Land und seit 40 Jahren in der Partei. „Mir sind normale Leut gewest“, sagt er im bayerisch-schwäbischen Dialekt.

Über den Tod seiner Tochter spricht Johann Braun am liebsten gar nicht, das lässt er seine Frau tun. Er sitzt meist schweigend daneben, weil ihm die unbändige Wut die Wörter in den Mund treibt. „Solche Schweine, solche Hunde, so ein Pack. Was glauben Sie, was ich mit diesen Lumpen machen würde?“

Was die Eltern Braun in diesen Tagen wieder so aufgewühlt hat, ist eine dreiseitige Presseerklärung der Münchner Staatsanwaltschaft, deren Kernsatz lautet: „Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I führten daher zu dem Ergebnis, dass dem Polizeibeamten Kai Uwe W. ein Vergehen der Körperverletzung mit Todesfolge nicht nachgewiesen werden kann.“ Das Verfahren gegen alle drei Beamte wird eingestellt. Der Dienstgruppenchef Kai Uwe W. erhält lediglich wegen fortgesetzter Beleidigung einen Strafbefehl in Höhe von rund 12.000 Mark. Gegen seine Entlassung aus dem Polizeidienst hat er vor dem Verwaltungsgericht geklagt.

Ein halbes Jahr nach dem Tod von Silvia fand ihre Mutter in einem Buch versteckt den Abschiedsbrief. „Ich kann mir nicht mehr anders helfen“, steht da und: „Ich traue mich nicht mehr nach München. Ich habe keine Lust mehr, mich quälen zu lassen.“

Für die Brauns ist Silvias Selbstmord Mord. Mord, weil sie eine lebenslustige Tochter hatten, bevor sie zur Polizei ging. Mord, weil frauenfeindliche Zustände auf dem Revier 14 bekannt waren. „Wir haben am Anfang wirklich geglaubt, die wollen das aufklären“, sagt Margit Braun, bis sie begreifen musste: Die wollen „sich selbst reinwaschen und unsere Tochter als psychisch krank darstellen“. Alles, was die Eltern an angeblichen Beweise für die Qualen ihrer Tochter vorbrachten, wurde schließlich gegen sie verwandt: Der Abschiedsbrief, so die Münchner Polizei in ihrer ersten Stellungnahme, müsse erst einmal „auf seine Echtheit überprüft“ werden. Weil Silvia aus Angst vor der Kritik ihres Vorgesetzten manchmal länger als nötig über ihren Protokollen saß, hieß man sie „übereifrig“ und „krankhaft ehrgeizig“. Dass sie sich in ihrer Not an einen Neurologen wandte, der in seiner Krankenakte notierte, die Aussagen der Patientin über die Qualen an ihrem Arbeitsplatz „erscheinen mir glaubhaft und geeignet, das vorliegende Krankheitsbild zu erklären“, wurde ihr angelastet: als Beweis dafür, dass sie vor ihrem Suizid in psychiatrischer Behandlung gewesen sei. Und schließlich: Silvia Braun schrie nicht laut um Hilfe. Daher, so der Münchner Staatsanwalt, hätten die Beamten den sich verschlechternden Gesundheitszustand nicht erkennen können.

Der Anwalt der Eltern, Thomas Etzel, hält das „für eine Verhöhnung des Opfers“. Ihn erinnert das an die Verharmlosung einer Vergewaltigung, wenn sich das Opfer nicht massiv genug wehrt. „Wer Angst einflößt, wird damit auch noch belohnt“, sagt Etzel.

Die Hausfrau Margit Braun mit der dreistelligen Telefonnummer hat in dem vergangenen Jahr ein neues Leben angefangen, um ihre Tochter „nicht noch einmal sterben zu lassen“. Sie hat sich durch Ermittlungsakten gelesen und herausgeschrieben, was ihr an Merkwürdigkeiten auffiel. Sie hat Briefe getauscht mit Mobbing-Opfern in Deutschland, und sie hat dabei Parallelen gefunden zum Fall ihrer Tochter. Immer wieder ist sie „nauf nach München“ gefahren. Hat Pressekonferenzen in eigener Sache einberufen und den Umgang mit Medien gelernt. Im Bayerischen Landtag ist sie gewesen. Und als der Polizeipräsident nach seiner Rede über die Zustände in der Landeshauptstadt durch die Wandelhalle zum Ausgang eilte, hielt ihn die kleine, dickliche Frau von hinten am Mantel fest: „Silvia war nicht psychisch krank. Nicht bevor sie zur Polizei ging.“

Und jetzt? Jetzt, da die Akte Braun vom Leitenden Oberstaatsanwalt mit der Einstellung des Verfahrens geschlossen wurde, hat sich die 46-jährige Frau noch einmal hingesetzt und einen fünfseitigen Brief an den bayerischen Innenminister Günther Beckstein geschrieben. Der „sehr geehrte Herr Minister Beckstein“ solle nun bitte „die erforderlichen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen bei der Staatsanwaltschaft München einleiten“. Den Brief will sie ihm in den nächsten Tagen persönlich bringen. Dann fährt sie wieder einmal „nauf nach München“. Über die Landstraße.