Schamlos unschuldig

■ Das Böse kommt von außen. Die politische Kultur in Deutschland kennt nicht das Eingeständnis eigenen Versagens oder Verfehlens

Schamlos – nämlich unverschämt – ist, wer sich ohne Bezugnahme auf sein soziales Umfeld verhält

„Die Hetzjagd ist zu Ende“, gab ein waidwunder Manfred Kanther zu Protokoll, als er am 25. Januar sein Bundestagsmandat aufgab. Ähnlich selbstmitleidig und aggressiv zeigen sich Kohl wie Merkel, Schäuble und Koch. Das fehlende Unrechtsbewusstsein ist parteiübergreifend: Kritische Fragen nach Schleußers Trips mit seiner Geliebten in einer Fluglinie von „Kriminellen“, wie Wolfgang Clement betont, rufen ebenfalls nur wütende Presseschelte hervor. Vor den Augen einer staunenden Öffentlichkeit verwandelt sich der Täter flugs in das Opfer. Im persönlichen Bereich dürfte solch fauler Zauber mindestens Verblüffung auslösen: Von denen, die sich daneben benehmen, erwartet man landläufig so etwas wie Betroffenheit oder Schuldgefühle, Verlegenheit oder gar ausgeprägte Schamreaktionen.

Scham- und Schuldgefühle haben eine regulative Funktion: Sie steuern nicht nur eigenes Verhalten, sondern ebnen auch den Weg zu einem rücksichtsvollen Umgang mit anderen. Schamlos – nämlich unverschämt – ist, wer sich ohne Bezugnahme auf sein Umfeld verhält. Somit führen Scham- und Schuldgefühle nicht nur zu einer Korrektur der eigenen Person. Sie regulieren auch soziales Zusammenleben. Nicht so bei den aktuellen Politskandalen.

Gelegentlich vernehmen wir zwar eine Entschuldigung von Wolfgang Schäuble gegenüber dem jüdischen Volk. Und sonst? Eine strahlende Angela Merkel, die ohne die sonst gewohnte depressive Attitüde Stein und Bein auf Schäubles Wort schwört. Helmut Kohl stellt sein Ehrenwort über Gesetze – unter dem Respekt und der Bewunderung großer Teile seiner Partei: Das Böse kommt von außen. Längst hat sich innerhalb der großen Volksparteien eine politische Kultur etabliert, die das Eingeständnis eigenen Versagens oder Verfehlens nicht kennt. Das bizarre Fehlen schuldhafter Verarbeitungsformen nicht nur in der CDU, sondern auch bei Sozialdemokraten vom Schlage Glogowskis oder Schleußers hat sozialpsychologische Ursachen.

Keinerlei Widerspruch in der CDU oder der nordrhein-westfälischen SPD trübte über Jahrzehnte den harmonischen Konsens. Weil jede Kultur des Dissenses und der Auseinandersetzung fehlt, gibt es auch keine Personen, die dem „Monokohl“ des Establishments widersprechen. Vielmehr macht parteipolitische Karriere, wer das verstellbare Rückgrat gleich mitbringt und das Schweigen in Jahren langer Anpassung gelernt hat. Selbst Abstimmungen über strittige Themen wie Garzweiler II verlaufen grundsätzlich einstimmig. Dies fördert das Entstehen eines eigenen, parteiinternen Wertesystems, das sich gegenüber Kritik von außen als erstaunlich resistent erweist. Ist nämlich erst einmal in der eigenen Bezugsgruppe ein System gegenseitiger Bestätigung etabliert, „weiß“ jedes Mitglied, was opportun, was als richtig oder falsch zu gelten hat. Zwar mag dieses Wertesystem im Laufe der Jahre immer weiter von dem der Öffentlichkeit abweichen. Echte innere Korrektur existiert jedoch nicht. Auch kritische Anmerkungen der Medien wirken vor diesem Hintergrund nicht als Infragestellung eigener Verhaltensnormen, im Gegenteil: Eine Solidarisierung gegen die Presse ist die Folge. Auch hieraus erwächst innerhalb der Partei weitere bindende Kraft.

Die erstaunliche Selbstmitleidigkeit der Bundes-CDU oder von SPD-Landesfürsten und -Ministern beruht auf einem blitzschnellen Wechsel von der Täter- in die Opferposition. Da eigene Fehler weder von der betreffenden Person noch von ihrem Umfeld gesehen werden, erleben die Kritisierten Fragen der Presse als ungerechtfertigte, böswillige Attacke.

Nicht nur Korrektur innerhalb der eigenen Reihen fehlt weithin, sondern auch die durch die jeweils andere Volkspartei, was zunächst merkwürdig anmuten mag, nutzt der politische Gegner gewöhnlich doch gegenwärtige Schwächen weidlich für die eigene Imagepflege. Aber es handelt sich meist um eine Empörung, die eben dann abbricht, wenn plötzlich auch die eigenen Reihen betroffen sind. Zu Recht wird die Empörung der jeweils anderen Volkspartei als bloßer taktischer Angriff, nicht aber Überzeugungstat gewertet: Der Gegner greift nicht den politischen Skandal oder die Missstände in den eigenen Reihen an, sondern die Partei als solche, weshalb die Reihen fest geschlossen zu halten sind.

Doch damit nicht genug. Jahrelange Vorteilsnahme, Begünstigung und das Abtauchen in rechtliche Grauzonen werden durch Erfolg bestätigt. Spendenpraktiken oder Sozifilz, gesponserte Bierfeiern oder das Zuschanzen von Aufsichtsratsposten funktionieren selbst nach drastischen Verfehlungen über Jahre oder Jahrzehnte reibungslos. Nur grobe Ungeschicklichkeiten rufen missliche Reibereien mit der Öffentlichkeit hervor. Das System funktioniert – und das bestärkt nicht nur Fehlverhalten, sondern auch den Glauben an die Berechtigung eigenen Tuns. Hier schließt sich die Frage an, warum selbst dann an Leugnungsmustern, an Geständnissen in Scheibchenform oder Publikumsbeschimpfungen eisern festgehalten wird, wenn man sich selbst und der eigenen Partei massiv schadet. Müsste nicht spätestens bei Einbrüchen in der Wählergunst eine Korrektur erfolgen? Die Empirie, der wir allabendlich vor dem Bildschirm staunend beiwohnen können, widerlegt diese nahe liegende Annahme. Zu unterscheiden ist nämlich zwischen dem öffentlichen Ansehen, dem Image der eigenen Partei und ihrer Protagonisten, und dem Selbstbild, welches ihre Führungspersönlichkeiten von sich selbst pflegen. Zwar würde es dem Öffentlichkeitsbild außerordentlich gut tun, in einem Rutsch möglichst alle Verfehlungen einzuräumen. Doch höher als das Ansehen nach außen steht allemal das innere Bild, das Image, das man von sich selbst pflegt. Und das muss – siehe oben – mitnichten mit der Realität der Allgemeinheit übereinstimmen.

Um ein Beispiel zu geben, das wie ein Running Gag durch die täglichen Nachrichtensendungen läuft: Schäuble erinnert sich an kein Treffen mit Schreiber. Schäuble erinnert sich an ein Treffen mit Schreiber. Schäuble erinnert sich an die Übergabe von 100.000 Mark. Schäuble erinnert sich (kaum) an ein weiteres Treffen. Die Erinnerungslücken, die in anderen Fällen die Befürchtung einer mittelgradigen Demenz begründen könnten, hängen mit der geliebten Vorstellung der eigenen Person und des idealen Selbstbildes zusammen. Es darf eben nicht so gewesen sein, weil es nicht in das Selbstbild des Wolfgang Schäuble passt. Nur unter Schmerzen gibt Schäuble zu. Doch die Schmerzen betreffen nicht etwa die belogene Öffentlichkeit oder die düpierte Partei, sondern das beschädigte Selbst.

Solange sich also innerhalb beider Volksparteien keine innovativen Foren etablieren, solange keine Kultur des Dissenses gepflegt wird, wird Kritik weiterhin nur als Attacke von außen erlebt. Waren früher die Jugendorganisationen kritische und unbequeme Begleiter des Tankers Partei, und pinkelten Junge Union und Jusos ihren Altvorderen regelmäßig an den Denkmalssockel, leiden die jungen Wilden heute unter Harnverhalten. Nachwuchsförderung – unter Kohl eher nach dem Vorbild des Herodes gepflegt – liegt in beiden Parteien danieder. Das Ideal der Einigkeit und der Widerspruchslosigkeit führt zu Agonie und einer zunehmenden Entfremdung von der Öffentlichkeit.

Die klimatischen Bedingungen der Parteibiotope brauchen nicht nur die kritische Begleitung von außen. Mindestens ebenso notwendig ist die Selbstverständlichkeit innerparteilicher Diskussion.

Micha Hilgers

Micha Hilgers ist Psychoanalytiker und Publizist in Aachen. Zum Thema erschienen von ihm: „Scham. Gesichter eines Affekts“ und „Das Ungeheure in der Kultur. Psychoanalytische Aufschlüsse zum Alltagsleben“ (beide bei Vandenhoeck & Ruprecht).