Vorschriften sind Vorschriften

Die Nürnberger Staatsanwaltschaft ermittelt gegen zwei jüdische Widerstandskämpfer, die vor 54 Jahren SS-Männer zu vergiften versuchten. Denn so ist es vorgeschrieben. Deutsche Rechtsextremisten sind begeistert ■ Von Bernd Siegler

„Ich kann ihre Reaktion verstehen. Sie haben eine Wut gehabt und wollten Rache nehmen für ihre ermordeten Familien. Das ist doch verständlich.“

Nürnberg (taz) – „Ich glaube, dass die Deutschen verrückt sind.“ Joseph Harmatz kann es einfach nicht fassen. Seit über vier Monaten ermittelt nun schon die Nürnberger Staatsanwaltschaft, weil er vor knapp 54 Jahren, im April 1946, als Mitglied der jüdischen Widerstandsgruppe Nakam (hebräisch: Rache) versucht hat, Insassen eines Nürnberger US-Gefangenenlagers mit Arsen zu vergiften. Der 74-jährige Holocaust-Überlebende findet das Vorgehen der Justiz „einfach lächerlich“.

Angst machen ihm die Ermittlungen nicht, die nach Ausstrahlung eines kurzen Films im Lokalfernsehen begonnen und an die sich mittlerweile rechtsextreme Gruppierungen angehängt haben: „Ich habe keine Absicht, jemals nach Deutschland zu fahren“, sagt Harmatz. „Und die Ermittler können nicht hierher kommen.“ Wo „hierher“ ist, kann und will er nicht sagen.

„Wir machen den Männern keine Angst, sondern wir wollen einen Vorgang, der damals die Weltöffentlichkeit bewegt hat, aufklären“, schildert Nürnbergs Justizpressesprecher Ewald Behrschmidt das Motiv für die Ermittlungen.

Damals, das begann im Sommer 1944 im ostpolnischen Lublin. Die von der Roten Armee befreite Stadt entwickelte sich zum Sammelpunkt für jüdische Partisanen, die in den Wäldern gegen die Nazis gekämpft hatten. Rund 50 von ihnen, sie nannten sich Nakam, entschlossen sich, Vergeltung zu üben. Einer von ihnen war Joseph Harmatz, der bei den Partisanen gekämpft hatte, ein anderer der heute 77-jährige Leipke Distel, der im Ghetto von Vilna (heutiges Litauen) Widerstand geleistet hatte und ins KZ Stutthof deportiert worden war.

„Wir wollten der Welt beweisen, dass wir nicht bereit waren, stillschweigend all das Morden und Töten hinzunehmen“, erzählte Distel den Journalisten Jim Tobias und Peter Zinke für einen Fernsehbeitrag des Nürnberger Lokalanbieters „Medienwerkstatt“. „Nürnberg war ein Symbol für Naziherrschaft“, betont Harmatz. Also wurden verschiedene Pläne für Aktionen in dieser Stadt geschmiedet, manche auch wieder fallen gelassen.

Zunächst sollte das Trinkwasser für die Nürnberger Bevölkerung vergiftet werden. Das Gift dazu war schon auf dem Seeweg von Palästina aus unterwegs, doch die Kuriere wurden von den Briten abgefangen. Zudem hatte zuvor schon die spätere israelische Staatsführung klargemacht, dass sie keine Aktion gegen die Zivilbevölkerung dulden würde.

Die Nakam-Kämpfer wollten fortan gezielt die NS-Täter ins Visier nehmen. So war ihnen der in Nürnberg stattfindende Kriegsverbrecherprozess ein Dorn im Auge. „Es machte uns krank, mit ansehen zu müssen, wie Zeugen um Zeugen vorgeladen wurden, wo doch alle Fakten bekannt waren“, betont Harmatz. Ausgerüstet mit Maschinenpistolen und Handgranaten wollten sie „den großen Helden ein Ende bereiten“. Doch das Nürnberger Justizgebäude war zu stark gesichert.

Also trat tochnith beth (Plan B) in Kraft: ein Giftanschlag auf ein US-Gefangenenlager im Süden Nürnbergs, in dem 12.000 ehemalige SS-Männer und NS-Funktionäre interniert waren. Die „Rächer“ fanden schnell heraus, dass sie alle ihr Graubrot aus der Konsum-Bäckerei in der Nordstadt erhielten. Leipke Distel ließ sich dort anstellen und spionierte die Großbäckerei aus. Das Arsen zum Vergiften der Brote bekamen die „Rächer“ in sieben Wärmflaschen versteckt, die sich die Kuriere um den Bauch gebunden hatten, aus Paris. Am 13. April 1946 war es dann so weit. Distel drang mit zwei Mitkämpfern in die Bäckerei ein. Sie bestrichen die Unterseite der Graubrot-Laibe mit der Arsen-Lösung. „Bei dem 1.001. Brot freuten wir uns und küssten uns“, erzählte Distel den Filmemachern.

Ungefähr 3.000 Brote konnten sie derart präparieren, dann wurden sie vom Wachpersonal überrascht und machten sich aus dem Staub. Die Wachleute schöpften keinen Verdacht, sie glaubten, Brotdiebe überrascht zu haben. Das vergiftete Graubrot wurde ausgeliefert, und nach damaligen Zeitungsberichten erkrankten 2.283 Insassen des Lagers, „207 mussten ins Lazarett eingeliefert werden, nur 38 Fälle waren schwerer, doch bestand in keinem Fall Lebensgefahr“.

„Einige waren auch eine Zeit lang blind“, berichtet der ehemalige Waffen-SS-Mann Franz-Josef Scherzer, der von September 1945 bis Mai 1946 im Lager interniert war. „Gestorben ist meines Wissens keiner“, betont der heute 76-Jährige. Er trägt den Tätern nichts nach: „Ich kann ihre Reaktion verstehen. Sie haben eine Wut gehabt und wollten Rache nehmen für ihre ermordeten Familien. Das ist doch verständlich.“

So viel Verständnis hatte die Nürnberger Justiz nicht. Nach Ausstrahlung des Films wurde Filmemacher Tobias zum informellen Gespräch zur Staatsanwaltschaft gebeten, um dort Auskunft über die Wohnorte der Zeitzeugen zu geben. Tobias lehnte ab. „Die Nazis sterben in ihren Betten, und jetzt sollen die beiden noch zur Rechenschaft gezogen werden“, kommentierte er das Vorgehen der Justiz und informierte die Presse.

In Israel schlug dies hohe Wellen. In der zweitgrößten israelischen Tageszeitung Maariv meldete sich der ehemalige Anführer der Nakam-Gruppe, Izaak Awidow, zu Wort: „Wir geben doch offen zu, was wir getan haben. Was gibt es da überhaupt zu ermitteln?“ Der Reporter des Blattes äußerte sein Unverständnis darüber, dass ausgerechnet „in Nürnberg, der Stadt der Rassengesetze, nun Ermittlungen gegen Juden aufgenommen worden sind“.

Die Aufregung kann der Leitende Oberstaatsanwalt Klaus Hubmann nicht nachvollziehen: „Wenn sich jemand zu einem versuchten Mord bekennt, dann müssen wir tätig werden und ein Aufnahmeverfahren eröffnen.“ Die Justiz sei durch das Legalitätsprinzip zu Nachforschungen gezwungen.

Nachforschungen hatte es aber schon Mitte 1996 gegeben. Damals reagierte die Nürnberger Staatsanwaltschaft auf eine israelische Reportage, die „Spiegel TV“ ausgestrahlt hatte. Im Juli 1997 stellte man das Verfahren ein, weil „die Identität der Täter nicht feststellbar gewesen“ sei. Leipke Diestel hatte seine Geschichte schon damals unverhüllt und mit Namen vor der Kamera erzählt.

Beifall bekommt die Staatsanwaltschaft mittlerweile von deutschen Rechtsextremisten. Die in Oberhausen erscheinende Postille Unabhängige Nachrichten sucht unter der Überschrift „Rachegruppe ermordete mindestens 300 Deutsche“ Überlebende des „Massenmordversuches“. Die sollten sich entweder direkt bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg melden oder bei einem in Bochum ansässigen „Deutschen Rechtsschutzkreis“, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Rechtsextremisten bei Strafverfahren juristisch und finanziell zu unterstützen.

Die Rechtsextremisten fühlen sich in ihrer Vorgehensweise bestärkt durch den Vorsitzenden der Nürnberger Jüdischen Kultusgemeinde, Arno Hamburger. Der SPD-Stadtrat hatte die beiden Filmemacher kritisiert, warum sie diese „uralten Geschichten wieder ausgegraben“ und nicht einfach haben ruhen lassen können. Durch „blinde Racheakte“ dürfe man sich „keinesfalls auf eine Stufe mit Mördern stellen“.

Solche Bedenken hegen die Nakam-Kämpfer nicht. „Wir haben moralisch gehandelt, weil die Juden ein Recht hatten, sich an den Deutschen zu rächen“, betonen Distel und Harmatz.

Wie lange die Ermittlungen noch andauern, kann Justizpressesprecher Behrschmidt nicht sagen. Man verschaffe sich derzeit „ein Bild von den Ereignissen“. Die Frage des Rechtshilfeersuchens an Israel stelle sich derzeit jedoch „noch nicht“. Darüber müsste dann letztendlich das Bundesaußenministerium befinden.