Zwischen Geier und (E)Ule

■ Ein Buch über das hkk-Gebäude an der Schlachte nimmt sich gleich der ganzen Quartiersgeschichte an / Über Uebelstände und schwimmende Schuhe

Vor der Tür steht der gewaltige „Pleitegeier“, wie er im Volksmund heißt. Der ist eigentlich ein Adler, und dass er mit einer Pleite in Verbindung gebracht würde, konnte der Stifter Konsul Hermann Helms 1971 nicht ahnen. Ein Jahrzehnt später war es soweit: Die Dampfschifffahrtsgesellschaft Hansa geriet in wirtschaftliche Turbulenzen und musste in der Folge ihr Stammhaus in der Martinistraße 24 verkaufen.

1912/13 hatte die Reederei das Gebäude auf alten Fundamenten errichten lassen. Bis dahin standen auf dem Grundstück zwischen Schlachte und Martinistraße neun einzelne Häuser. Im 16. und 17. Jahrhundert hatten Bremer Kaufleute die Sandinsel zwischen Martinistraße und Schlachte erschlossen. Im Stil der Weser-Renaissance ließen sie dort Wohn-, Lager- und Kontorhäuser sowie Werk- und Gaststätten errichten.

Erhalten geblieben sind davon nur die beiden markanten Giebel an der Front zur Martinistraße und die verwinkelten alten Kellergewölbe. Der eingepasste Sandstein-Mittel-trakt wurde von den Architekten Behrens und Neumark mit dem repräsentativen klassizistischen Eingangsportal versehen. Das Treppenhaus dagegen ist im Jugendstil gehalten, so dass sich mit den historischen Überresten ein kurioser Stilmix ergibt.

Als es mit der Dampfschifffahrt bergab ging, bewies die Handelskrankenkasse (hkk) den richtigen Riecher: Gut zwei Jahrzehnte bevor die Schlachte zu Bremens neuer Flaniermeile ausgebaut wurde, erkannte man den attraktiven Standort und schnappte einem griechischen Reeder das Gebäude weg. Aber mit den 7,5 Millionen Kaufpreis war es nicht getan: Noch einmal die gleiche Summe musste in die Renovierung gesteckt werden, bevor hier ärztliche Behandlungen abgerechnet werden konnten.

Nun hat die Kasse eine Dokumentation über die Geschichte des Firmensitzes vorgelegt. Die Journalistin und Sozialökonomin Lydia Niehoff hat dafür nicht nur alles über Geschichte und Vorgeschichte des maritim-merkantilen Hauses zusammengetragen. Auch auf die nähere Umgebung geht die Autorin ausführlich ein. Von der Entstehung des Martini-Kirchspiels über Aufstieg und Fall des Hafenquartiers an der Schlachte bis zur Ansiedlung der Dampfschifffahrtsgesellschaft wird die Geschichte des Viertels anschaulich dargestellt, mit vielen Fotos und Plänen. Die geneigte Leserin erfährt vom düsteren Durchgang zwischen Ulenstein und Schlachte: Offensichtlich vergebens versuchte Eigentümer Johann D. Poggenburg 1894 einem „Uebelstand“ abzuhelfen, indem er verbreitert und „thunlichst erhöht“ würde, da er „in Folge seiner jetzigen Verhältniße und Beschaffenheit hauptsächlich nachts Schlupfwinkel“ biete und morgens meistens verunreinigt sei. Dafür waren vermutlich die Gäste der seit Jahrhunderten ansässigen Kneipen verantwortlich. Auf sie geht eventuell sogar der Name „Ulenstein“ zurück: Auf dem Heimweg, so wird vermutet, hätten sie ein groß' Ge-heule wie die Eule angestimmt.

Ein anderer Misstand waren die dauernd überschwemmten Keller an der Schlachte: Der Geschichtsprofessor Dietrich Schäfer berichtet über seine Kindheit um 1850, es sei „nicht selten vorgekommen, dass das Wasser morgens unter den Betten stand – da konnten wir unsere Holzschuhe schwimmen lassen.“ MJ/not

Das Buch heißt genau: Lydia Niehoff: Ein Haus voller Geschichten. Hauschild-Verlag. 120 Seiten. 34 Mark.