Literatur und Leben

■ Auf den Spuren des Schriftstellers Giorgio Bassani durch Ferrara. Die Figuren seiner Erzählung sind überall gegenwärtig

Auf dem jüdischen Friedhof Ferraras sind die Werke des Schriftstellers Giorgio Bassani allgegenwärtig, insbesondere sein bekanntester Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“. Eugenia Contini, steht auf einem Grabstein, starb schon als junge Frau, im Juni 1897. Enzo Finzi dagegen wurde in Würde alt, 86: „Der Gerechten Pfad ist wie das Licht am Morgen, das immer heller leuchtet bis zum vollen Tag“, steht auf seinem Stein.

Wer über die weiten Rasenflächen von einer Gräbergruppe zur nächsten zieht, über Wege mit dickem Eichenlaub vom Vorjahr geht, der begegnet immer wieder Steinen mit Namen aus Bassanis Romanen und Erzählungen. Contini, Levi, Finzi, Limentani. Steine des Gedenkens, Sitzplätze für Spatzen und Krähen.

Der Autor wählte für seine Werke durchweg typische Namen aus der Gegend. Er unterlegte die Geschichten mit einem dichten Geflecht historischer Details, beschrieb akribisch einzelne Straßenzüge seiner Heimatstadt und lehnte die meisten Figuren an Personen an, die wirklich gelebt haben.

Bassani, heute 81 Jahe alt, hat immer wieder betont, Poetisches könne nur da entstehen, wo Wahrheit, wo Wirklichkeit sei. Deshalb habe er stets „zugleich Dichter und Historiker“ sein wollen, ein Schriftsteller, der dem Leben und dem Geist Ferraras in den Dreißiger- und Vierzigerjahren poetische Gestalt gab.

Den Friedhof verewigte Bassani gleich in mehreren Werken, die Stille, die weitläufigen Flächen, „auf denen nur hier und da ein Baum stand“. Unwillkürlich sucht deshalb der Blick auch nach dem monumentalen Grabmal der Familie Finzi-Contini, das in Wirklichkeit nie existiert hat. Wo hätte die blonde, rätselhafte Micòl eigentlich ihre letzte Ruhe finden sollen? Das Mädchen war die große Liebe des Erzählers und fand, wie der Leser schon am Anfang des Romans erfährt, vielleicht niemals ein Grab. Im Herbst 1943 wurde es mit seinen Eltern nach Deutschland deportiert. Sie ist ein Beispiel für die vielen Mädchen und Jungen, Frauen und Männer Ferraras, die eines Tages verhaftet wurden.

„Bis vor drei Jahren kam Bassani selbst öfter auf den Friedhof“, erzählt die Friedhofswärterin. Als sie Bassani zum ersten Mal sah, gab es gleich eine Diskussion. Der Schriftsteller wollte sich keine Kopfbedeckung aufsetzen. „Nicht nötig“, sagte er, als die Wärterin ihm eine Kippa hinhielt. Erst nach einigem Drängeln hielt er sich schließlich an das jüdische Gesetz. Später hatte er dann immer einen Hut auf und wies manchmal lächelnd auf seinen Kopf: „Sehen Sie?!“

Bassani hatte immer ein schwieriges Verhältnis zur Religion seiner Vorfahren. Die jüdische Gemeinde von Ferrara ist deshalb nicht sonderlich gut auf Bassani zu sprechen, wie überhaupt das ganze alte Bürgertum. Zu oft brach der Schriftsteller in dem, was er sagte und tat, mit Tabus, und zu deutlich benannte er in seinen Werken die Verfehlungen der Gesellschaft im Faschismus. Bassani fing den Geist jener Zeit offenbar genau ein, ließ die komplizierten sozialen Beziehungen einfließen, ohne sie zu sehr zu vereinfachen. Das jedenfalls ist das Resümee von Paolo Ravenna: „Die Romane spiegeln fast überall meine Erfahrungen wider.“ Der 71-jährige Rechtsanwalt lernte Bassani 1938 kennen, als er wegen seiner jüdischen Herkunft der Schule verwiesen wurde. Zusammen mit ein paar anderen Juden erhielt er nun Unterricht bei Bassani, in einer improvisierten Schule in der Via Vignatagliata. „Die Konstellationen damals waren viel schwerer zu durchschauen, als man sich das heute leicht vorstellt“, sagt Ravenna. „Keine klaren Gruppen, gegensätzliche Gefühle, merkwürdige Überschneidungen.“

Die meisten bürgerlichen Juden waren Faschisten, bis man sie aus der Partei ausstieß, viele aus Patriotismus, manche aus Opportunismus. Ravennas Vater blieb sogar bis kurz vor den Rassegesetzen Bürgermeister der Stadt. Und Mussolinis Generalgouverneur Italo Balbo bekannte sich auch später noch demonstrativ zu seiner Freundschaft mit dem Bürgermeister, indem er ihn manchmal abends zum Spaziergang über den Corso Giovecca abholte.

Dort flanieren bis heute die Leute, ganz wie in Bassanis Werken beschrieben, schauen sich die Auslagen der eleganten Geschäfte an und biegen schließlich am Kastell de Este in den Corso Martiri della Libertà ein. Selbst vormittags hat hier niemand Eile. Die Radfahrer treten wie im Zeitlupentempo in die Pedale. Es ist nicht ganz unverständlich, wenn Bassani seine geliebte und gehasste Stadt als schläfrig oder sogar friedhofsstill beschreibt. Selbst die Fiats und Renaults sind hier leiser als anderswo.

Nur ein paar Steinwürfe vom Corso Martiri della Libertà entfernt steht die Synagoge, kaum zu erkennen in der Reihe der Häuser. Erst zwei große Gedenktafeln beseitigen die letzten Zweifel: Tafeln mit den Namen der deportierten und ermordeten Juden. Bassani lässt hier die Schlüsselszene der Erzählung „Eine Gedenktafel in der Via Mazzini“ spielen. Der Auschwitz-Rückkehrer Geo Josz sieht im Vorbeigehen, dass eine Tafel montiert wird, und entdeckt seinen eigenen Namen darauf. Eine ähnliche Situation hat es tatsächlich gegeben. Es war Gegio Ravenna, ein Cousin Paolos. Der Junge hatte zusammen mit Primo Levi in der Krankenbaracke von Auschwitz gelegen und überlebt. Mit seiner Rückkehr hatte niemand mehr gerechnet. So musste nun eine neue Tafel in Auftrag gegeben werden.

Im Falle von Micòl aus den „Gärten der Finzi-Contini“ ist die Suche nach Vorbildern schwieriger. Roseda Tumiati allerdings könnte sicher Einiges dazu sagen. Die pensionierte Lehrerin hat Bassani seit damals nie aus den Augen verloren, aber sie zieht es vor, bei diesem Thema nur vielsagend zu lächeln.

Als junges Mädchen war Signora Tumiati Feuer und Flamme für den Duce. Was der große Führer sagte, konnte nur richtig sein, und bei der Sommerfrische der Familie in Riccione umschlich sie immer wieder Mussolinis Villa am Strand. Lange ohne Erfolg, doch irgendwann erblickte sie ihn. Die Hände in die Hüften gestemmt und nur mit einer Badehose bekleidet, ging er festen Schrittes über den Strand, während die Menge „Du-ce! Du-ce!“ skandierte. Roseda brachte vor Ehrfurcht keinen Ton heraus.

Solche Verwirrungen hat Bassani dem naiven, sechs Jahre jüngeren Mädchen nie übel genommen. Jahrzehnte später schrieb er sogar ein Vorwort zu ihrem Buch über die Jugend im Faschismus. Aber der Schriftsteller nahm Rosedas Familie in den Roman „Die Brille mit dem Goldrand“ auf, poetisch verwandelt und wenig schmeichelhaft.

Aus der lebhaften, unpolitischen Mutter wurde im Werk die wortgewandte Signora Lavezzoli, die am Strand von Riccione erbarmungslos gegen einen homosexuellen Arzt hetzt und die Nähe des badenden Mussolini wie eine ignorante Dreizehnjährige genießt. Auch der Vater der Familie ist zweifelsfrei wiederzuerkennen: ein eleganter Universitätsprofessor mit liberaler Gesinnung und Träumen vom italienischen Imperium.

Als der Roman 1958 erschien, kamen die Leute zu den Tumiati und sagten: „Ist das nicht eine Schweinerei? Damit sind Sie gemeint.“ Aber auf so etwas konnte die gebildete Familie nur mit Kopfschütteln und abwiegelnden Worten reagieren: „Künstler verändern die Wirklichkeit eben, wie sie gerade wollen.“ Bei einem Detail allerdings war es mit der Souveränität der Tumiati vorbei, erzählt die Signora und lacht wieder: Im Roman ließ Bassani ihren gelehrten Vater einen billigen Bestseller lesen. Das war Dichtung, nicht Wahrheit. Florian KnöpplerBassanis Werke sind auf Deutsch beim Piper Verlag in München erschienen