Begraben in der Adria

In der albanischen Hafenstadt Vlora sind Schlepper gut im Geschäft. Fast täglich starten hier Flüchtlingsboote nach Italien.Viele bezahlen die Flucht mit dem Leben, zuletzt im Dezember. Da ertranken 59 Menschen ■ Aus Vlora Thomas Schmid

„Die Italiener wollen, dass Albanien nicht zur Ruhe kommt, damit ihrer Tourismusindustrie von Albanien her keine Konkurrenz erwächst.“

Über hunderttausend Bäume sollen es sein, und sie stehen alle in Reih und Glied, nach Kriegsende gepflanzt von den Arbeitern und Bauern unter dem stalinistischen Regime des Enver Hoxha. Der große Pinienhain, der sich am Strand außerhalb der albanischen Hafenstadt Vlora kilometerlang hinzieht, war wohl einst ein Stück kommunistisches Paradies auf Erden. Zwar hat man auch hier Betonbunker hingebaut. Aber sie stehen wie riesige Steinpilze zwischen den Bäumen und wirken wie artistisches Beiwerk zum künstlichen Wald. Doch dann sind da hunderte, vielleicht tausende völlig verrosteter, bis aufs Skelett abgenagter und ausgenommener Autos, die überall verstreut herumliegen und dem Wald in eine bizarr-gruselige Welt verwandeln.

Am vergangenen Mittwoch brannte hier ein kleines Licht. Es fiel jemandem auf. Er meldete es der Polizei. Die entdeckte 28 Kurden und sieben Afghaner, die sich zu mitternächtlicher Stunde an einem Feuer wärmten. Sie warteten auf das Boot, das sie an die italienische Küste bringen sollte.

„Wir haben sie verköstigt und im Korridor des Kommissariats schlafen lassen“, berichtet Niko Shqina, Vizepolizeichef der Stadt, „es waren sehr freundliche Leute.“ Am nächsten Tag wurden sie an die Grenze nach Griechenland gebracht. Drei Tage zuvor war eine Polizeipatrouille im gespenstischen Wald auf 18 Chinesen gestoßen. Man hatte sie zunächst zur Botschaft ihres Landes nach Tirana gefahren, doch die wollte die Flüchtlinge nicht aufnehmen, und so fanden auch sie sich schon bald am griechischen Grenzzaun wieder. Auch sie hat der warmherzige Polizeioffizier im Korridor seines Kommissariats nächtigen lassen.

Es ist ein kahler Gang, der in eine Ruine übergeht. Bei den Unruhen vor drei Jahren war als erstes das Polizeirevier gestürmt und in Brand gesetzt worden. Noch teilen sich der Polizeichef und sein Vize ein Büro. Noch gibt es nur vier Arrestzellen. „Aber spätestens in einem Monat haben wir wieder genügend Zellen“, meint Shqina. Wie viel genügend sind, will er nicht verraten. Vlora, eine Stadt mit etwa 100.000 Einwohnern, ist eine kriminelle Hochburg Albaniens.

In der Stadt im Süden wurde schon bald nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Regimes 1991 geschmuggelt, was das wirtschaftlich zerstörte Land am meisten brauchte: Lebensmittel. Doch bald merkten die Profis, was am meisten Profit zu bringen versprach: Flüchtlinge, Prostituierte, Waffen und Haschisch.

Zum Schmugglerparadies wurde Vlora 1997. Nach dem Zusammenbruch der dubiosen Finanzinstitute, bei denen fast alle Albaner ihre Ersparnisse verloren, kam es im ganzen Land zu Unruhen. Vlora war die erste Stadt, in der die Waffenarsenale der Armee und der Polizei geplündert wurden und ein bewaffnetes „Komitee“ die Macht übernahm. Das Beispiel machte Schule. Der albanische Staat brach faktisch zusammen, die Armee löste sich auf. In Vlora wurden vier Mitglieder des Geheimdienstes gelyncht, der Bürgermeister flüchtete in die Hauptstadt.

Es herrschte Gesetzlosigkeit, und die Macht lag bald bei bewaffneten Banden. Es gab 250 Tote, bis sich ein halbes Jahr später der Staat zurückmeldete und eine öffentliche Verwaltung mit Polizei und Justiz in der Stadt Einzug hielt. Ein Viertel der Bevölkerung war geflohen. „Ich habe mich sechs Monate kaum aus dem Haus getraut“, sagt Ilir, ein 30-jähriger Mechaniker, „ich hatte eine kleine Tochter, gerade vier Monate alt.“ Und Ema, Mutter des inzwischen dreijährigen Mädchens, meint: „Noch nie gab es so viele Vergewaltigungen in der Stadt.“

Der Volksaufstand fegte das korrupte Regime von Sali Berisha hinweg. Doch von den damals landesweit 700.000 geklauten Kalaschnikows wurden bis heute höchstens 120.000 zurückgegeben. „Wir haben nun mit dem Einsammeln der Waffen begonnen“, sagt Niko Shqina stolz, „am 18. Januar übergab man uns in einem Viertel 35 Kalaschnikows, vier Maschinengewehre, 50 Handgranaten und 6.000 Schuss Munition.“ Immerhin ein Anfang. Allein in Vlora dürften über 10.000 Gewehre versteckt sein. Trotzdem: Es herrscht Ruhe in der Stadt. „Fahren Sie bloß nicht nachts“, sagt Shqina zum Abschied.

Der Mann, der in den Tagen des Aufstands an der Spitze stand, heißt Albert Gjahatari. Nach dem Fall Berishas und mit dem Einzug der neuen sozialistischen Regierung wurde er Chef der Küstenwache Südalbaniens und stieg in die Direktion der nationalen Zollverwaltung auf. Nun arbeitet er in Tirana. Doch am Wochenende fährt er gerne in seine Heimatstadt. In einem vornehmen Restaurant, hoch über der Küste, plaudert er von damals. Das Komitee habe die Kontrolle an die Mafia verloren. Aber heute habe der Staat alles wieder im Griff. „Wenn hier noch fast täglich die Boote mit geschmuggelten Flüchtlingen nach Italien abfahren“, sagt er, „dann sind die Italiener schuld.“

Die Italiener haben auf der vorgelagerten Insel einen Stützpunkt mit Radar und Schnellbooten, im Meer ihre Kriegsschiffe, und auf dem albanischen Festland ist eine italienische Kompanie stationiert. „Die Italiener wollen, dass Albanien nicht zur Ruhe kommt“, behauptet Gjahatari, „damit ihrer Tourismusindustrie von Albanien her keine Konkurrenz erwächst, und sie wollen, dass die Probleme anhalten, damit sie für deren Lösung von der Europäischen Union Gelder kriegen.“ Auch die albanische Mafia sei ein Exportprodukt der Italiener. Dass am vergangenen Donnerstag in Rom der Leiter der italienischen Hilfsaktion „Arcobaleno“ (Regenbogen) verhaftet wurde und gegen ihn wegen der Plünderung der Hilfsgüter in einem Flüchtlingslager, das die Italiener bei Vlora für Kosovo-Albaner eingerichtet hatten, ermittelt wird, hat ihn nicht erstaunt. „Wenn ich in Italien mich als Albaner zu erkennen gebe“, sagt Gjahatari, „dreht mir schon am ersten Tag ein Italiener Prostituierte aus Albanien oder einem osteuropäischen Land an. Wer ist der Schurke?“

Agim, so wollen wir ihn mal nennen, sieht das alles viel nüchterner. Seit fünf Jahren fährt der junge Mann als Schlepper über die Adria. In den ersten drei Januarwochen ist er schon dreimal drüben gewesen. Bis vor einem halben Jahr starteten die Boote im Stadtzentrum. Seit die albanische Polizei den Strand fünf Kilometer in beiden Richtungen kontrolliert, startet er zehn Kilometer außerhalb, manchmal vor dem Fischerhafen Triporto, manchmal im Süden, kurz vor der alten Marinebasis, wo nun das türkische Militär eine Reparaturwerft einrichtet.

Weshalb erzählt er das alles? Läuft er nicht Gefahr, dass der Reporter alles berichtet? „Die Polizei, die weiß genau, was hier läuft“, sagt Agim, „aber die hat nicht ein einziges Patrouillenboot, um uns draußen festzunehmen, und die Italiener dürfen uns am Land nicht aufgreifen.“ Ein Polizist verdient 200 Mark im Monat. Soll er dafür seine Haut riskieren? Oder streicht er sein Schweigegeld ein? Dazu schweigt Agim.

Zwischen 650 und 1.000 Mark kostet die Überfahrt zur 60 Seemeilen entfernten Küste, die ein Schnellboot je nach Wetterlage in ein bis zwei Stunden schafft. An die 50 Boote sind irgendwo im Gelände versteckt. Bei gutem Wetter starten jede Nacht einige, mit in der Regel zwischen 10 und 35 Personen an Bord. Etwa die Hälfte der Flüchtlinge seien Albaner, berichtet Agim, die andere Hälfte seien vor allem Kurden, aber auch Frauen aus Osteuropa. Er weiß, dass die meisten Frauen in die Prostitution gezwungen werden. „Mit Frauenhandel und Drogen habe er nichts zu tun“, behauptet er, „ich bringe nur Männer oder Familien raus.“ Er sei nur Fluchthelfer.

Vier „Fluchthelfer“ müssen die Flüchtlinge bezahlen: den Besitzer des Boots, der den größten Reibach macht, den Fahrer, einen Mechaniker und den „Begleiter“. Während Fahrer und Mechaniker ihre menschliche Fracht an der italienischen Küste nur ausladen, begleitet Agim die Flüchtlinge vom apulischen Ufer aus zu Bahnhöfen und Busstationen. Danach besteigt er in Bari die reguläre Fähre nach Albanien. Einen Pass hat er nicht. „Aber die Italiener sind froh um jeden Albaner, der ihr Land verlässt, und die Albaner müssen mich ja nehmen.“ Während Fahrer und Mechaniker einen festen Betrag, in der Regel 1.000 Mark pro Passage, vorab einstreichen, erhält Agim von jedem Albaner, der telefonisch meldet, dass er am Zielort in Italien angekommen ist, 100 Mark, die vorher in Vlora bei einer Vertrauensperson hinterlegt wurden. Die meisten Flüchtlinge benachrichtigen Verwandte und Fluchthelfer vor Ablauf einer Frist von 24 Stunden nach der Landung. Ist kein Anruf eingegangen. gehört das hinterlegte Geld der Vertrauensperson. In seiner Clique würden die Regeln eingehalten, sagt Agim.

Die italienischen Sperren zu durchbrechen sei keine Kunst, erklärt Agim. Die schweren Kriegsschiffe sind unfähig, die flitzenden Motorboote abzufangen. Und versenken dürfen sie sie ja nicht. Ab und zu zwingen allerdings die italienischen Schnellboote zur Umkehr. Doch inzwischen können es die Fluchtboote der Albaner mit dem Gegner durchaus aufnehmen. Oft haben sie zwei Außenbordmotoren mit je 250 Pferdestärken.

Seit einem Jahr sind in Albanien zwar nur noch Boote mit höchstens 75 PS erlaubt und einem Hubraum von maximal 100 Kubikzentimetern. Aber die Motoren werden ohnehin erst vor Abfahrt angebracht. „Wenn wir aber ein Boot ohne Motor finden“, hatte der Vizechef der Polizei gesagt, „können wir nichts tun.“ Als der Polizeipräfekt vor einem Jahr sechs Boote beschlagnahmte, wurde er von Banditen entführt. Die Geiselhaft dauerte zwölf Stunden. Dann gab er die Boote wieder frei und ließ sich in eine ruhigere Stadt im Landesinnern versetzen.

Während sich Agim über die Italiener lustig macht, will Krenar Xhafari ihnen den Prozess machen. Er gehört zu den 34 Überlebenden des Unglücks vom März 1997. Damals rammte ein Schiff der italienischen Marine die „Kater i Rades“, ein ausgedientes albanisches Patrouillenboot, das mit Flüchtlingen überfüllt war. 86 Albaner ertranken in der Adria. Krenar Xhafari verlor seine Frau und seine sechs Monate alte Tochter. Sein Bruder Viron überlebte ebenfalls, aber seine Frau und drei Kinder starben bei dem Unglück.

Die Xhafaris wohnen in einem unverputzten Haus am Rande von Vlora. In der engen Wohnung drängen sich schwarz gekleidete Frauen. Dem Besucher werden Kaffee und Schnaps gereicht. Der Vater der beiden Brüder ist am 12. Januar gestorben. „Er hat im Dezember einen Visumantrag gestellt“, berichtet Krenar, „er wollte in Italien den Prozess um das Unglück von 1997 verfolgen und sein Lungenleiden im Krankenhaus von Perugia kurieren lassen.“ Am 11. Januar traf eine Ablehnung von der italienischen Botschaft in Tirana ein. Am 12. Januar, am Tag, an dem der Prozess wieder aufgenommen wurde, starb er. Am selben 12. Januar kamen in Süditalien zwei Anwälte der Überlebenden der Katastrophe von 1997 bei einem Autounfall ums Leben.

Krenar Xhafari glaubt an Mord. Auch das Boot, in das am vergangenen Silvester in Vlora 59 Flüchtlinge einstiegen, hätten die Italiener angegriffen, meint er. Von 58 Passagieren fehlt jede Spur. Nur das Boot und die Leiche einer Frau wurden gefunden.

Die „Kater i Rades“ wurde ein halbes Jahr nach dem Unglück geborgen – mit 57 Leichen. Die Übrigen hat die Adria verschluckt. Auf dem Friedhof von Vlora sind 57 gleiche Gräber, sechs tragen den Namen Xhafari. Hinter den Gräbern steht ein Monument mit der Inschrift: „Ihr seid vor einem abgrundtiefen Schrecken geflohen, und man hat euch in einen schrecklichen Abgrund geführt.“