Korruption, empirisch

Bei Korruption handelt es sich – genauer betrachtet – um Vernetzungstechniken, die auf Entscheidungen Einfluss nehmen, auf die nach der jeweiligen Systemlogik von Politik, Wirtschaft und Bürokratie von außen gar kein Einfluss genommen werden kann ■ Von Dirk Baecker

Was wir Korruption nennen, ist nichts anderes als ein solcher Mechanismus der Schaffung von Verlässlichkeit und Vertrauen

Korruption, so urteilt die Soziologie nahezu einhellig, ist das Hereinragen der Bindungsinstrumente der alten Welt in die neue Welt. Für die von uns für normal gehaltene und sogar in Verfassungsrang gehobene Entkoppelung von Politik und Wirtschaft bezahlen wir mit – je nach der Mächtigkeit der alten Welt – mehr oder weniger zahlreichen Fällen der Korruption. Wäre gar keine Korruption mehr festzustellen, hätte sich unsere neue Welt endgültig historisch losgekoppelt von der alten Welt, in der sie entstanden ist. Wie wünschenswert das ist, ist mehr als unsicher, da diese alte Welt über Mechanismen der lokalen Herstellung und Sicherung von Vertrauen und Verlässlichkeit verfügte, von denen wir nicht wissen, ob die neue Welt Ersatz für sie schaffen kann.

Was wir Korruption nennen, ist nichts anderes als ein solcher Mechanismus der Schaffung von Verlässlichkeit und Vertrauen. Ironischerweise handelt es sich sogar um einen Mechanismus, der in der modernen Welt noch bindungsstärker ist als in der alten. Denn Korruption kriminalisiert, macht erpressbar und schafft damit die Basis für ein Vertrauen, das zwar auf Heimlichkeit angewiesen ist, aber genau daraus ein wie immer zeitlich begrenztes Selbstvertrauen schöpfen kann.

Schaut man sich genauer an, was jeweils vorliegt, wenn etwas passiert, was wir Korruption nennen, sieht man relativ leicht, dass es sich um Vernetzungstechniken zwischen verschiedenen Systemen – meist, aber nicht nur zwischen Politik und Wirtschaft – und zwischen verschiedenen Organisationen – meist, aber nicht nur zwischen Parteien, Behörden und Unternehmen – handelt. Diese Vernetzungstechniken nehmen auf Entscheidungen Einfluss, auf die nach der jeweiligen Systemlogik von außen gar kein Einfluss genommen werden kann.

Denn wir sind es ja gewohnt, politische Entscheidungen nur politisch zu begründen und wirtschaftliche Entscheidungen nur wirtschaftlich. Korruptionsfälle jedoch sind Fälle, in denen politische Entscheidungen wirtschaftlich oder auch, das wird seltener gesehen, dann aber sogar für wünschenswert gehalten, wirtschaftliche Entscheidungen politisch begründet werden. Korruption ist der Fall, wenn Systeme sich durch andere Bedingungen als die eigenen konditionieren lassen. Ein Problem ist das deswegen, weil damit die systemeigenen Konditionen der Systeme abgehängt werden. Eine korrupte Politik ist eine Politik, die sich demokratisch nicht mehr beeinflussen lässt.

Eine korrupte Wirtschaft ist eine Wirtschaft, in der der Markt nicht mehr das letzte Wort hat. Korruption bricht, mit anderen Worten, die Geschlossenheit der Systeme auf und passt sie an das an, was in ihrer Umwelt für sinnvoll gehalten wird. Der entscheidende Punkt ist nun, dass das Motiv für diese Öffnung nicht in den Funktionssystemen selber liegt, sondern in Organisationen, die sich in diesen Systemen zu behaupten suchen.

Nicht die Wirtschaft oder die Politik werden korrumpiert, sondern Unternehmen, Parteien und Behörden. Diese Organisationen sind systematisch in der Lage, ihre eigenen Überlebensbedingungen unabhängig von dem einzuschätzen, was das freie Spiel der Wirtschaft oder der Politik ihnen andernfalls in Aussicht stellen würde. Sie beziehen sich, könnte man auch sagen, auf die Gesellschaft insgesamt und nicht nur auf eine partielle Systemlogik. Allerdings tun sie das aus ihrem jeweils ebenfalls partiellen Blickwinkel heraus. Trotzdem sind wir aber selbst in diese Gesellschaft verstrickt, deren Korrumpierbarkeit wir befürchten.

Was wir Korruption nennen, ist der Einbruch des Realitätsprinzips in geschlossene Systeme. Wer die Korruption verurteilt, kann sich auf allgemeine, also in jedem Einzelfall unrealistische Prinzipien berufen. Daher wissen diejenigen, die sich korrumpieren lassen, immer die besseren Gründe auf ihrer Seite. Aber sie können diese besseren Gründe nicht kommunizieren, weil es sich um hochgradig lokale und individuelle, eben empirisch begründete Gründe handelt, von denen wir gewohnt sind, sie auf bloßes Eigeninteresse zurückzurechnen und deswegen für verdächtig zu halten, obwohl doch auf einer wiederum prinzipiellen Ebene das Eigeninteresse in unserer Gesellschaft das letzte Wort hat.

Die alte Welt schuf Vertrauen und Verlässlichkeit über Vernetzung, Patronage und Klientelbildung. Die neue Welt setzt dagegen auf die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme und die möglichst unbeschränkte, nur von den ebenfalls ausdifferenzierten Massenmedien beargwöhnte Realisierung der jeweiligen Systemeigenlogiken. Unsere Organisationen jedoch stehen nach wie vor mit einem Bein in der alten Welt und mit dem anderen in der neuen.

Unternehmen, Parteien und Behörden erden, wenn man so will, die abstrakten Systemlogiken. Und sie berufen sich dazu auf Mitarbeiter, die im Gegensatz zu dem, was die Systemlogiken leisten, Augen im Kopf haben und zu sehen glauben können, was sich um sie herum abspielt. Was wir Korruption nennen, ist, so gesehen, nichts anderes als die Durchsetzung individueller Rücksichten in einer Gesellschaft, die sich deswegen „liberal“ nennt, weil sie ihren Individuen nicht über den Weg traut und daher Mechanismen entwickelt, die möglichen Fehler dieser Individuen möglichst schnell korrigieren zu können – unter Verweis auf die Gesetze des Marktes oder die Weisheit der Demokratie.

Niklas Luhmann hat einmal vorgeschlagen, die moderne Gesellschaft nur dann „rational“ zu nennen, wenn sie es schafft, die aus den Systemlogiken ausgeschlossenen Individuen in den Systemen wieder vorkommen zu lassen. Wenn Korruption darauf hinausläuft, Partialinteressen gegen allgemeine Interessen zu ihrem Recht zu verhelfen, müssen wir das bis auf Weiteres um so eher für rational halten, als diese allgemeinen Interessen schon längst nicht mehr zweifelsfrei behauptet werden können. Unsere spontane moralische Empörung über Fälle der Korruption ist ganz offensichtlich ein Streit der Gesellschaft mit sich selbst.