Durch den Tschetschenien-Feldzug hat sich Verhältnis zwischen Russland und dem Westen erneut dramatisch verschlechtert
: Droht ein neuer Kalter Krieg?

Die Nato handeltnach Ermessen und Opportunität, notfalls auch mit Gewalt

Wenn nicht alle Anzeichen trügen, nähert sich der blutige Krieg im Kaukasus einem Ende. Die militärische Rückeroberung einer abtrünnigen Provinz steht bevor. Sollten im Kaukasus tatsächlich demnächst die Waffen schweigen, wird das Publikum erleichtert aufatmen: Endlich verschwinden die täglichen Schreckensbilder von den Fernsehschirmen. Aber zur Beruhigung besteht wenig Anlass. Die Kluft zwischen dem Westen und Russland ist tiefer geworden. Durch Europa weht ein Hauch von Kaltem Krieg. Der Tschetschenien-Feldzug war der bisher letzte einer Reihe von sicherheitspolitischen Sündenfällen sowohl Russlands wie des Westens, die das internationale Klima deutlich verschlechtert haben.

Im Tschetschenien-Krieg ist zunächst die Härte des Vorgehens auffällig, die sich Moskau leisten zu können glaubt. Seit vier Monaten überzieht eine Feuerwalze das Land. Ort für Ort wird eingekesselt und mit Bombern und Raketenwerfern so lange beschossen, bis er gefahrlos eingenommen werden kann. Die Taktik soll den Kampf am Boden vermeiden und die eigenen Verluste niedrig halten. Für die Angegriffenen ist das Ergebnis gleichwohl verheerend. Dörfer und Städte sinken in Schutt und Asche. Die bewaffneten Freischärler wie die zivilen Bewohner geraten gleichermaßen ins Schussfeld.

Damit verstößt diese Form des Kriegführens gegen den wichtigsten Grundsatz des internationalen Kriegsrechts: die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten. Personen, die nicht an Kampfhandlungen teilnehmen, dürfen nicht Ziel bewaffneter Angriffe sein. Die Sowjetunion hat die entsprechenden Abkommen sämtlich unterzeichnet und ratifiziert. Sie binden folglich auch die Russische Föderation als deren Rechtsnachfolgerin. Das skrupellose Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung lässt sich mit dem Argument, man verfolge nur Banditen und Terroristen, nicht entschuldigen. Zu Recht steht Moskau am Pranger der internationalen Öffentlichkeit.

Aber anders als während des ersten Tschetschenien-Krieges zwischen 1994 und 1996 regt sich diesmal im Lande selbst kaum Opposition. Seit den Sprengstoffanschlägen in Moskau, die über 300 Menschen in den Tod rissen, und den Angriffen auf dagestanische Bergdörfer werden die Tschetschenen als Verantwortliche verdächtigt. Allerdings stehen nur im zweiten Fall die Täter fest: Der Tschetschene Schamil Bassajew hat sich mit den Überfällen gebrüstet. Sein Ziel ist ein islamischer Kaukasus, aus dem die Russen – immerhin die stärkste Bevölkerungsgruppe – gefälligst zu verschwinden haben.

Keine Frage, dass sich Russland zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer in der Defensive befindet. Mit ihren über hundert Völkerschaften und tausenden von Clans weist die Region ein Maß an ethnischer und politischer Zerklüftung auf, dem gegenüber sich der Balkan geradezu übersichtlich ausnimmt. Von den sieben nordkaukasischen Republiken, die zur Russischen Föderation gehören, ist Tschetschenien darüber hinaus die einzige, in der die Titular-Nation auch die Mehrheit der Bewohner stellt. Würde sie sich endgültig aus dem russischen Staatsverband lösen, erhielten die Sezessionsbestrebungen in den übrigen teilautonomen Republiken Auftrieb, der Abwanderungsdruck auf die russische Bevölkerung nähme weiter zu.

Derweil wachsen südlich des Kaukasus die Spannungen mit den ehemaligen Sowjetrepubliken und heute unabhängien Staaten Georgien und Aserbaidschan. Sie sind die stillen Verbündeten Amerikas im Pipeline-Monopoly um die kaspischen Öl- und Erdgasvorräte. Was würde geschehen, wenn russische Streitkräfte über die Bergkämme vordrängen, um die Versorgungsstützpunkte der tschetschenischen Kämpfer in Georgien auszuheben? Die serbischen Truppen haben es nie gewagt, der UÇK bis in ihre albanischen Schlupfwinkel nachzusetzen. Aber die türkische Armee trägt den Kampf gegen die PKK beständig auf irakisches Territorium. Nun ist der Irak ein geächtetes Land ohne Aussicht auf Hilfe, Georgien hingegen wähnt sich schon mit einem Fuß in der Nato.

Nicht ohne Grund hat sich in der russischen Hauptstadt der Eindruck verfestigt, aus der europäischen Politik immer stärker verdrängt zu werden. Als der Bosnienkrieg endete, entschied die Nato, die militärische Nachsorge in eigener Regie zu betreiben. Für Russlands Rolle fand man die Formel, die fortan gilt: Mitwirken ja, mitbestimmen nein. Zähneknirschend fügte sich Moskau, konnte aber dennoch die Ausdehnung der Allianz nach Osten nicht abwenden. Das Europa der gemeinsamen Sicherheit ohne neue Grenzen und Gräben, wie es die Nato-Russland-Akte von 1997 verheißt, existiert nur auf dem Papier. Der Westen handelt nach Ermessen und Opportunität, notfalls auch mit Gewalt, notfalls auch gegen geltendes Völkerrrecht. War es denn realistisch zu erwarten, das Kosovo-Beispiel würde nicht Schule machen? Nur wer seine Interessen selbst in die Hand nimmt, so folgerten die Kreml-Strategen, kann sich behaupten. Von der Nato lernen heißt siegen lernen!

Aus westlicher Sicht ist die Lage doppelt misslich. Zum einen hat die Nato ein Glaubwürdigkeitsproblem: Das Leid der Albaner im Kosovo beantwortete sie mit Bomben und Raketen, vor der Not der Tschetschenen blickt sie betreten zur Seite. Zum anderen erscheinen die Gespenster des Kalten Krieges wieder am Horizont. Boris Jelzin fühlte sich bemüßigt, Washington an Russlands Atomwaffenmacht zu erinnern. Dieselbe Handschrift trägt Wladimir Putins neuer Sicherheitserlass. Bill Clinton hatte zuvor gewarnt, Moskau werde einen hohen Preis entrichten müssen, wenn es seinen Marsch auf Grosny fortsetze. Das sind die Codes der nuklearen Drohung. Zu Zeiten der Supermachtkonfrontation waren sie an der Tagesordnung. Noch vor fünf Jahren hätte niemand vorausgesagt, dass sie in die Ost-West-Beziehungen zurückkehren würden.

Zu Recht steht Moskau am Pranger der internationalen Öffentlichkeit

Auch dem Rest der Welt eröffnen sich außerordentlich lehrreiche Einsichten. Dass eine Organisation wie die UNO doch noch in die Rolle des globalen Friedenshüters hineinwächst, zu der sie bestimmt ist und für die sich die politischen Voraussetzungen seit 1989/90 entscheidend verbessert hatten, wird immer unwahrscheinlicher. Wer sicher sein will, braucht eigene Stärke oder aber das Bündnis mit Starken. Den perfekten Schutz vor humanitären Interventionen à la Nato und vor Terroristenbekämpfung nach Moskauer Vorbild bietet jedoch erst der Besitz von Abschreckungsmacht. Das werden gerade diejenigen Staaten aufmerksam registrieren, die vor der Frage stehen, ob sie ihre nationale Nuklearwaffenrüstung ab- oder ausbauen sollen.

Reinhard Mutz