„Man amüsierte sich“

■ The Days of Rock ’n’ Roll in Bamako: Der Fotograf Malick Sidibé über Mode und Musik in Mali, über die Bedeutung von Schallplatten und den Stellenwert der Alltagsfotografie in Afrika

taz: Herr Sidibé, wann wurden Ihre Bilder erstmals publiziert?

Malick Sidibé: Das war erst vor ein paar Jahren, nach der Ausstellung „Afrique en creation“ 1995 in Frankreich. Es war die erste Ausstellung meiner Bilder, und sie hat uns, die afrikanischen Fotografen, erst wirklich ins internationale Rampenlicht gerückt.

In Mali sind Ihre Bilder vorher nicht veröffentlicht worden?

Nein, nie – nicht einmal in den Zeitungen.

Warum nicht?

Es gab keinen Anlass, diese Bilder zu präsentieren. Und in Mali war man damals auch nicht offen für so was. Es gab keine liberalen Journalisten und Magazine, in dene die Bilder einen Platz hätten finden können. Erst durch den Erfolg afrikanischer Fotografen in Europa erfährt unsere Arbeit eine neue Wertschätzung.

Ist man in Mali überrascht über Ihre Bilder, die das Alltagsleben der 60er-Jahre zeigen?

Ja, man ist überrascht. Zu der Zeit, als ich diese Fotos gemacht habe, waren die jungen Leute sehr viel sozialer, man lebte in Gruppen. Aber in den Jahren nach 1968, nach dem Militärputsch gegen Keita, sind die Jugendlichen zunehmend vereinzelt, oder sie lebten zu zweit. Nach 1968 haben die Jugendlichen die Arme hängen lassen. Erst nach dem Sturz des Putschregimes 1991 ging es wieder aufwärts.

Wie sieht man die Zeit vor dem Putsch heute, im Rückblick?

Man sagt sich: In dieser Zeit gab es keinen Alkoholismus, keine Drogen – es gab Lebensfreude. Die Leute, die sich in meinem Buch wiederfinden, und die jungen Leute, die ihre Eltern sehen, sie sagen: Damals hat man sich amüsiert.

Waren das die Rock-’n’-Roll-Jahre in Mali?

Ja, das könnte man so sagen. In dieser Zeit war die afrokubanische Musik, oder generell die westliche Musik, sehr populär. Diese Musik wurde von der Jugend aufgegriffen – mittels Platten, die damals in ganz Afrika verkauft wurden. Als all diese Platten und Kassetten in Afrika auftauchten, führte das dazu, dass die traditionelle afrikanische Musik fallen gelassen wurde. Zur traditionellen Musik konnten sich die jungen Männer und die Mädchen nicht näher kommen – da saßen die Männer auf der einen Seite und die Frauen woanders, man hat sich nicht berührt.

Es waren die Schallplatten, denen die Jugend diese Freiheit verdankte, diese Liberalisierung. Die jungen Leute haben sich alles zunutze gemacht, um ein Fest zu organisieren und zu tanzen.

Wie kam Ihr Kontakt mit den Jugendlichen zustande?

Über die Tanzabende. Als Fotograf war man ja sehr gefragt, die Anwesenheit eines Fotografen war sehr wichtig. Sie sehen auf den meisten Fotos: Die Leute wollten ihre Fotos vorzeigen. Sie schauen den Fotografen an, sogar während sie tanzen. Die Jungs setzten sich in Szene, um die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich zu ziehen.

Aber die Eltern durften die Fotos nicht sehen ...

Nein, auf keinen Fall. Man hat sich auch nicht in der Öffentlichkeit getroffen, sondern in privaten Häusern, seltener in öffentlichen Sälen. Wenn die Alten nicht da waren, hatten die Jugendlichen Gelegenheit, sich zu berühren, sogar zu umarmen.

Was haben die Älteren dazu gesagt? War das ein Skandal?

Ja, es war schon ein Skandal. Aber die Jugendlichen haben Wege gefunden, sich ihren Eltern zu entziehen. Die Männer waren ohnehin frei – es waren die Mädchen, die nicht frei waren auszugehen. Die Mädchen haben heimlich ein Kleid oder eine Hose unter ihrer Robe getragen, so dass sie rein äußerlich wie jede andere Frau in Mali aussahen. Wenn sie dann nach Mitternacht nach Hause kamen, und die Mutter oder die Großmutter eingeweiht waren, öffneten diese ihr die Tür, und das Mädchen konnte rein, ohne von ihrem Vater gesehen zu werden.

Es war also eine geheime Angelegenheit?

Ja, es war geheim. Aber man hat trotzdem getanzt wie verrückt.

Welches war die bevorzugte Musik bei solchen Partys?

Ich habe die Fotos gemacht, mit den Platten kannte ich mich nicht so gut aus. Man hörte Cha-Cha-Cha, Merengue, Blues – der Blues war gut, denn man tanzte ihn bei heruntergedrehtem Licht. Das erlaubte es einem Paar, sich zu umarmen. Das Licht war zwar heruntergedreht, aber ich habe es immer gesehen, wenn sich jemand umarmte, und mit dem Blitzlicht habe ich dann manchmal ein Foto geschossen – popp. Manche waren darüber nicht so begeistert. Aber die Jungs waren meistens glücklich – so ein Foto zeigte schließlich, dass man mit dem Mädchen gut stand.

Lief diese Musik im Radio?

Generell wurde sie auf Platten verkauft, im Radio lief sie nicht. Im Kino konnte man sehen, wie man zu dieser Musik tanzt, und die Jugendlichen haben sich die Schritte abgeschaut. Als die Platten aufkamen, haben die Jugendlichen sich diese geholt, um sie auf ihrem Plattenspieler zu spielen. Es gab Plattenläden in Bamako, und es gab libanesische Händler, die sie verkauft haben.

Auf manchen Fotos sieht man, wie die Jugendlichen stolz ihre Platten präsentieren ...

Platten waren teuer, nur reiche Händler und Beamte konnten sich das leisten. Jemand, der Platten besaß, war sehr wichtig, er war reich – oder er war weit gereist und hatte sie von seinen Reisen mitgebracht. Das war selten, und darum posierte man mit einer Platte oder mit dem Cover.

Man hat den Eindruck, Bamako war sehr international, was Musik und Mode anging ...

Ja, das ging von Burkina Faso aus und vom Senegal, der noch vor Mali kolonisiert worden war. Bamako war ein Ort der Begegnung, eine Kreuzung. Es ist eine kosmopolitische Stadt, in der alle möglichen afrikanischen Gemeinschaften zu Hause sind.

Dennoch war Bamako damals noch überschaubar ...

Ja, damals bin ich vielen Aufträgen mit dem Fahrrad nachgekommen oder auf dem Mofa. So habe ich fast die ganze Stadt abgedeckt. Heute ist das unmöglich.

Ich konnte sechs verschiedene Partys am gleichen Abend machen, weil sie bis sechs Uhr morgens gingen. Jeden Samstag gab es Tanzveranstaltungen.

Nach der Unabhängigkeit wurde das dann aber etwas eingeschränkt ...

Ja, das war sehr strikt. Nach Mitternacht oder nach zwei Uhr durfte man keine jungen Leute mehr auf der Straße sehen, in der sozialistischen Zeit. Die jungen Leute waren angehalten, zu Hause zu sein, wenn es spät wurde. Aber das hat sie nicht davon abgehalten, zu nationalen Festen oder an religiösen Feiertagen zu feiern.

Ging es wieder traditioneller zu nach der Unabhängigkeit? Zumindest in der Musik haben sich lokale Stile ja zunehmend durchgesetzt ...

Nun, man hat nicht wirklich die Tradition wieder aufgegriffen, dafür war man zu lange unter dem Einfluss des Westens gewesen.

Es gab Orchester, die seit den 50ern brasilianische, amerikanische oder kubanische Musik spielten und damit ihr Publikum unterhielten. Es gab viele Musiker und Formationen aus Mali, die man nach Kuba geschickt hat oder nach Moskau, zur Ausbildung in anderen sozialistischen Ländern. Und als sie zurückgekommen sind, haben sie natürlich kubanische Musik gespielt. In den 60ern hat man dann versucht, die Musik zu afrikanisieren. Heute hat sich die afrikanische Musik gut entwickelt, und die jungen Leute tanzen zur Musik aus Mali.

Hat die Regierung versucht, die traditionelle Musik wieder aufzuwerten?

Das war nicht die Regierung, das war die Nachfrage des Publikums – und die Musiker haben sich diesem Wunsch gebeugt.

Dank Musikern wie Salif Keita, Boubacar Traoré oder Ali Farka Touré, die alle in ihrer eigenen Sprache singen, ist die Musik wieder zu ihren afrikanischen Wurzeln zurückgekehrt. Es gibt diese Entwicklungen ja auch in Europa – etwas wird abgelehnt, anschließend wieder aufgegriffen.

War die Mode damals westlicher als heute?

Ja, das würde ich so sagen – alle diese Jugendlichen, die in den 60ern Schlaghosen getragen haben, die kleiden sich heute natürlich schicklicher. Ich würde auch sagen, die Mode war damals eleganter. Aber das hat nichts mit der Kolonisierung zu tun. Das war ja in Frankreich oder Deutschland ähnlich – alle Welt hat die Italiener kopiert, weil die sich so gut angezogen haben. Der Mensch ist ein Sklave der Mode.

Sie haben an der Kunsthochschule studiert und sind dann zur Fotografie gewechselt ...

Schon in meinem ersten Jahr auf der Kunstschule habe ich gezeichnet, ich habe mich also damals schon mit Bildern beschäftigt. Nach meinem Studium war ich glücklich, zur Fotografie zu wechseln – die ja viel schneller war als der Pinsel.

Welches war der Status eines Fotografen zu dieser Zeit?

Es wurde nicht als Kunst angesehen. Aber ein guter Fotograf galt trotzdem fast als Genie.Wenn das Foto gut war, hat man das alles auf den Fotografen geschoben. Viele Fotografen achteten nicht auf die Komposition – sie fotografierten in irgendeiner Position, die ihnen gefiel. Ich dagegen habe die Herangehensweise eines Zeichners auf meine Fotografien übertragen.

Sie haben früher auch im Studio gearbeitet und klassische Porträts gemacht.

Ja, und das war anstrengend – tagsüber war ich im Laden und abends lange unterwegs. An Samstagen war ich manchmal bis elf Uhr abends im Studio, um von dort aus die Feiern aufzusuchen.

Das Studio war sehr wichtig zu dieser Zeit. Mütter brachten ihre Kinder mit, und man hat sich gut vorbereitet – mit Puder und Make-up. Man zog sich gut an und machte sich fein. Manche haben sich sogar pärfümiert! (lacht).

Ich hatte zwar mehr technische Möglichkeiten im Studio, dafür haben mir aber die Reportagen mehr Spaß gemacht. Ich hatte eine sehr schöne Zeit mit der Jugend. Ich kann sagen: Das hat mich selbst verjüngt.

Wie steht es heute um die Fotografie in Mali?

Heute macht das jedermann: Es ist eine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es gibt mehr Fotografen als Beamte, so viel kann ich sagen. Fotografie in Afrika, das ist heute eine große Industrie. Es ist vulgarisiert worden.

Was ist Ihre Einstellung zur Farbfotografie?

Farbe eignet sich für bestimmte Zwecke – wenn es nicht von Dauer sein muss, denn Farbe ist sehr empfindlich und verfällt mit der Zeit. Für meine Arbeit bevorzuge ich Schwarzweiß, weil das über Jahrhunderte hält. Die Fotos, die ich in den 60ern gemacht habe, sind heute noch intakt. Sie haben ihren alten Glanz behalten.

Sehen Sie sich selbst als historischen Chronisten?

Allmählich denke ich, dass ich während meiner fotografischen Karriere tatsächlich ein Stück der Geschichte meines Landes festgehalten habe. Und es gibt heute Leute, die mir sagen, dass meine Fotos einzigartig sind – dass man weder in der Skulptur noch in der Malerei die Vielfalt des Lebens jener Zeit gespiegelt findet. Ohne es zu wissen, habe ich meinem Land einen großen Dienst erwiesen.

Interview: Daniel Bax,

Harald Fricke