„In den Knast, genau wie Krenz“

In Dresden sind viele Kohl-Fans enttäuscht von dem Mann, der die Einheit brachte. CDU-Mitglieder drängen auf glaubhaften Neuanfang

Doch, hier blüht die Landschaft. Links laufen die Vorbereitungen für den historischen Aufbau des Dresdner Neumarktes, rechts erstrahlt das gerade fertig gestellte Coselpalais in mondänem Glanz. Die Frauenkirche in der Mitte ist bereits auf stolze 25 Meter angewachsen. An solcherart Emsigkeit war hier vor zehn Jahren überhaupt nicht zu denken. Bis Helmut Kohl kam. Exakt zehn Jahre und einen Monat ist es her, dass Kohl erstmals zu den „Brüdern und Schwestern“ im anderen Deutschland sprach. Vor dem riesigen Trümmerberg der Frauenkirche, diesem schreienden Mahnmahl gegen Krieg und Teilung, rief er den Dresdnern zu: „Liebe Landsleute . . .“ Der Rest ging in grenzenlosem Jubel unter.

Zehn Jahre später ist die Stimmung gemischt. „Verrat“ und „Mauscheleien à la Wandlitz“ wirft ein Bauarbeiter Kohl vor. „Ich habe Kohl damals gewählt, weil ich die SED-Bonzen weghaben wollte“, sagt der 49-Jährige, der seinen Namen lieber nicht nennen will; er hat Angst um seinen Job. Wenn Kohl die Namen nicht nennt, gehöre er „in den Knast, genau wie Krenz und Schabowski“.

„Empört“ ist dagegen das Rentner-Ehepaar Schulze, weil die CDU Kohl jetzt so fallen lässt. Schließlich stehe er moralisch ganz einwandfrei zu seinem Ehrenwort. „Wir haben Kohl so viel zu verdanken, und jetzt das“, sagt Anita Schulze, die mit ihrem Mann von Zeit zu Zeit an die Frauenkirche kommt, um sich am Tempo der Bauarbeiter zu erfreuen.

In der CDU-Kreisgeschäftstelle ist es ruhig an diesem Vormittag. Nein, sagt eine Mitarbeiterin, die vermutete Welle von Anrufern blieb aus. Trotzdem spuken Kohl, Hessen, der Spendenskandal und die Juden natürlich auch in Dresden in den Köpfen der CDU-Mitglieder herum. „Der Skandal ist ganz schlimm für unsere Partei“, sagt etwa Aline Fiedler, Vorsitzende der Dresdner Jungen Union. Es seien dafür aber nicht die CDU, sondern bestimmte Personen verantwortlich. „Die müssen jetzt auch die Verantwortung übernehmen“, so Fiedler. Schließlich könne die CDU ja nicht für die Verfehlung Einzelner in Sippenhaft genommen werden. Kohls Rücktritt sei ein Anfang, andere müssten folgen. „Nur so schaffen wir einen glaubhaften Neuanfang.“

„Der Rücktritt ist doch keine Lösung“, findet dagegen der Notar Christoph Hollenders, Kreisvorsitzender der CDU-Mittelstandsvereinigung. „Kohl muss alle Namen nennen. Sich mit seinem Ehrenwort rausreden zu wollen, ist geradezu ehrenrührig.“ Schließlich habe Kohl einem ganzen Volk sein Ehrenwort gegeben. „Und das sollte ja wohl mehr zählen.“

Thomas Schlichting vom Evangelischen Arbeitskreis der CDU hält Kohls Rücktritt für verfrüht. „Nach meinem Kenntnisstand ist die Aufklärung noch nicht so weit fortgeschritten, dass man Kohl schwere Schuld vorwerfen muss.“ Heribert Kollmann vom Ortsverband Blasewitz/Striesen kennt Kohl seit 30 Jahren. „Jedenfalls“, sagt der aus dem Rheinland stammende Wahldresdner, „ist die Enttäuschung über ihn in Ost und West gleich groß.“

So geht mit Kohls Rücktritt vom Amt des Ehrenvorsitzenden doch noch die Vision des Einheitskanzlers in Erfüllung: Ost und West sind zusammengewachsen.

Nick Reimer, Dresden