■ Die CDU-Spendenaffäre und die Folgen (3): Die CDU insgesamt ist schuldhaft verstrickt. Sie braucht eine Wahrheitskommission
: Unfähig zu politischen Konzepten

Die Tabuisierung politischer Vergangenheit ist ebenso verbreitet wie verheerend

Er könne sich ja auch nicht von seinen Eltern distanzieren, verteidigte in einer Fernsehsendung Jürgen Rüttgers sein Festhalten an Helmut Kohl. Unfreiwillig ist damit die Psychodynamik der CDU in der Post-Kohl-Ära auf den Punkt gebracht. Kohl ist noch immer Identifikations- und Vaterfigur für die meisten CDU-Aktiven. Die miserable Autonomieleistung von Rüttgers zeigt symptomatisch die verzweifelte Lage seiner Parteifreunde auf. Soll man Kohl einfach hinauswerfen oder zur Denkmalspflege zurückkehren, wie Rüttgers’ Club sie vorschlägt?

Neben der Aufarbeitung und Klärung dessen, was wirklich in der lähmenden Kohl-Zeit geschah, geht es vor allem um die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung: Die Riege der CDU-Landes- und -Bundespolitiker ist mit ihrem vormaligen geschmeidigen Mitläufertum beschämend konfrontiert. Die notwendige Trauer betrifft mithin weniger die Person Kohl – vielmehr müssen die CDU-Funktionäre Stellung beziehen zu ihrem eigenen Verhalten im System Kohl. Dabei etablieren sich mittlerweile zwei grundsätzliche Lösungsversuche, beide mit „Schluss jetzt!“-Charakter: Ende der Debatte über Kohl und Übergang zum Frontalangriff gegen die Ökosteuer, um die eigene Misere zu leugnen. Oder: Ende der Debatte durch eine Radikaldistanzierung von Kohl, was gleichfalls die Beschäftigung mit der eigenen politischen Vergangenheit ersparen soll. Doch weder die Denkmalputzer-Kolonne um Jürgen Rüttgers noch die Denkmalstürzer um den Niedersachsen Christian Wulff werden der kommenden Aufarbeitung einer schmerzlichen und von Trauer über die eigene Verstrickung geprägten Vergangenheit gerecht.

Die Tabuisierung politischer Vergangenheit durch „Schluss jetzt!“-Parolen ist ebenso verbreitet wie in ihren Auswirkungen verheerend. In den Sechzigerjahren wiesen die beiden Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich auf die Notwendigkeit einer trauernden Auseinandersetzung um eigene schuldhafte Verstrickungen hin. Die Deutschen sollten, um für politischen Neubeginn nach dem Nationalsozialismus und der durch Leugnung und Verdrängung charakterisierten Adenauer-Ära reif zu werden, ihre eigene Rolle in der Nazidiktatur anerkennen. Nur durch die Akzeptanz schuldhafter Vertrickung und Trauer über eigenes Versagen könne Lähmung überwunden und ein neues, wirklich demokratisches Deutschland möglich werden. Was die Mitscherlichs in ihrem berühmten Essay einklagten, gilt grundsätzlich für politischen Neubeginn: Weder die Beibehaltung idealisierter Führerfiguren noch ihre rasche Verdammung schaffen personelle und inhaltliche Bedingungen für einen Neubeginn. Die hohe Ambivalenz gegenüber Helmut Kohl, die aus den unbestreitbaren Verdiensten Kohls und seinen jetzt erkennbaren schweren Verfehlungen resultiert, kann nicht mittels Entweder-oder-Lösungen beseitigt werden. Lediglich die kollektive und persönliche Auseinandersetzung durch Partei und Mitglieder kann zu einem neuen Verhältnis gegenüber eigener Parteigeschichte führen. Keiner der „Schluss jetzt!“-Aufrufe wird dieser Ambivalenz gerecht oder integriert die Ambivalenz in die eigene politische Identität. Denn die politische Identität des Gros der CDU-Aktiven und Sympathisanten ist noch immer mit Helmut Kohl stark verknüpft. Zugleich ist die von schuldhafter Verstrickung geprägte Vergangenheit Grund für schwere Loyalitätskonflikte, die eine klare Absage an die Bimbes-Zeiten erschweren.

Die Infantilität, mit der die Debatte in den Reihen der CDU geführt wird, zeigt sich in Rüttgers’ prototypischem Irrtum: Ist eine Ablösung von Kohl einem Vatermord vergleichbar? Weder Mord noch Idealisierung werden die CDU aus der Krise führen. Die mit Kohl verbundene Vergangenheit ist in die parteipolitische Identität zu integrieren – und zwar in ihrer ganzen Ambivalenz. Erforderlich wäre eine Wahrheitskommission, die die politischen Machenschaften ebenso wie die Mitläufer während der Kohl-Ära für Partei und Öffentlichkeit untersucht.

Kaum vorstellbar, dass sich die CDU auf diesen schmerzlichen Weg einer Selbstfindung vor den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wird einlassen können. Wahrscheinlich wird sich daher eine der beiden „Schluss der Debatte!“-Varianten durchsetzen. Dies mündet zwangsläufig in anhaltende Agonie der Partei, mit der sie sich allerdings in guter Gesellschaft befindet: Denn spätestens nach dem Abgang von Lafontaine sieht sich die zweite große Volkspartei ebenfalls mit der Frage konfrontiert, wie ihre künftige Identität als Partei mit ihrer eigenen politischen Vergangenheit in Einklang zu bringen ist. Auch in der SPD war man sich schnell einig und griff zur „Schluss jetzt!“-Losung – mit fatalen Konsequenzen: Schluss mit Lafontaine bedeutete zugleich auch eine radikale Abkehr von politischen Konzepten, ohne dass Alternativen jenseits der Aufrufe zu moderner Politik sichtbar werden.

Mithin existieren weder in der CDU noch in der SPD programmatische Vorstellungen für die Post-Kohl- oder Post-Lafontaine-Zeiten. Und beide Parteien stützen sich wechselseitig durch ihre jeweils sichtbar werdenden Krisen. Damit verspielen die beiden großen Volksparteien ihre Chance zu einer politischen Standortbestimmung für die Zukunft.

Die Grünen sollten die Glaubwürdigkeitskrise von CDU und SPD konsequent nutzen

Die Konzeptionslosigkeit von SPD und CDU und ihr ungeklärtes Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit könnten zur Chance für PDS und Grüne werden, wenn sie die Glaubwürdigkeitskrise der Großen für sich nutzen und gleichzeitig mit überzeugenden Konzepten ohne Vergangenheitsballast aufwarten können. Dass die PDS gerade hierbei immer wieder in dieselbe Grube wie CDU und SPD fällt, liegt angesichts ihrer lauwarmen Vergangenheitsbewältigung auf der Hand.

Wer die Grünen vorschnell als parlamentarisch tot bezeichnet hat, könnte eines Besseren belehrt werden. Allerdings setzt dies die konsequente und entschlossene Nutzung der Glaubwürdigkeitskrise von CDU und SPD voraus. Nur die Verknüpfung eigener Gradlinigkeit mit politischen Entwürfen kann breitere Wählerschichten überzeugen, dass doch nicht alle Politiker gleich sind und die da oben sowieso nur an sich denken. Die Krise der Parteienlandschaft der BRD ist tiefgreifender als bisher erkennbar. Auf dem Spiel steht die Einbindung immer größerer Bevölkerungsschichten in den demokratischen Meinungsbildungsprozess. Die CDU spielt nicht nur mit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und riskiert Agonie in den eigenen Reihen. Wo jedoch wenig Hoffnung auf einen Klärungs- und Reinigungsprozess innerhalb der CDU besteht, wächst der Bedarf nach glaubwürdigen politischen und personellen Alternativen. Micha Hilgers