■ After the goldrush

Jetset, Jobs, Schulden: In der Boheme grassiert nun die „Neue Unlockerheit“

Berlin, Warschauer Brücke. Hier steigt er wahrscheinlich ein, der große Neunziger-Berlinroman mit dem Arbeitstitel „Tarifgebiet A“, den derzeit irgendein überqualifizierter Geringverdiener in seiner zentral gelegenen, aber unterbeheizten Ostberliner Altbauwohnung mit klammen Fingern in die Tasten haut. Bloß: Wovon handelt er? Von den Freuden des Nachtlebens – oder doch eher vom Kater danach?

Hinter den Kulissen der Boomtown B. ist die Stimmung nämlich alles andere als euphorisch. Wer etwa in der Maria am Ostbahnhof verkehrt, dank Publikum und Preis-Leistungs-Verhältnis einer der netteren Clubs, stößt immer wieder auf Belege für die von Christiane Rösinger besungene „Neue Bitterkeit“: Klagen über schlechte Jobs, den Zerfall alter Szenen, erzwungene Arbeitsemigration nach Darmstadt oder anderswo. Auch im Foyer der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, wo man sich nun wirklich bei jedem Anlass versichert, wie dufte man sich gegenseitig findet und wie sehr Berlin abgeht, berichten beim Daniel-Johnston-Konzert plötzlich welche, dass es sich auch andernorts prima leben lässt – und verschwinden nach Frankfurt. Noch nachdenklicher stimmt die Reaktion einer befreundeten Hamburger Bankerin, die sich – trotz Tätigkeit in der Filmfinanzierung eines großen Geldinstituts und einer schnuckeligen Wohnung im bürgerlichen Charlottenburg – gegen Berlin und für das proletarische Hamburg-Dulsberg entschied, um sich wesentlicheren Dingen zuzuwenden. Und ihren Job zu behalten.

Noch viel blanker als an den Rändern liegen die Nerven im Herzland Bohemias. Obwohl gelegentlich mit dem Supersparpreis der Deutschen BA nach Schwabing gejettet wird, schlagen die Konsequenzen eines Lebens unterhalb des Existenzminimums doch inzwischen bei vielen voll durch. Beispiele für eine „Neue Unlockerheit“ in Fragen der Lebensführung finden sich zuhauf. Da ist der habituell großbürgerliche Schauspielschüler, der mangels Engagements jetzt in Brandenburger Supermärkten Margarine feilbietet; in Sachen standesgemäßer Fahrradbeschaffung scheut er sich nicht, nach dem Bolzenschneider zu fragen. Der aufstrebende Jungjournalist beklaut auch schon mal Flohmarkthändler. Und der nette Typ, mit dem man vielleicht in einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender mal Praktikum gemacht hat (oder kennen wir ihn noch aus dem kulturwissenschaftlichen Seminar?), ist im Nebenberuf Drogendealer – irgendwie muss man ja das teure Nachtleben bezahlt kriegen.

Galten die Tips und Tricks in jungen Jahren noch Fragen wie der „alternativen Energieberatung“ (Stromklau durch Zählermanipulation) oder der Gratis-Zeitungsversorgung durch die never ending Story „Probeabo“, so weiß ein befreundeter Wohnzimmerkünstler inzwischen zu berichten, in welcher Klinik man sich das von all dem ungesunden Leben geschädigte Gebiss preiswert und prima voll sanieren lassen kann. Dass angesichts des drohenden Gerichtsvollziehers der im Musikgeschäft tätige Sohn aus gutem Hause private Schulden schon lange nicht mehr zurückzahlt, hätte man sich eigentlich auch vorher denken können.

Der heraufbeschworene Gründungsboom hat nämlich etwas von einem potemkinschen Dorf. Zwar häufen sich die tollen Projekte und interessanten Vernetzungen, und tatsächlich dürfen zur Belohnung für die Erhöhung der Hauptstadt-Attraktivität auch mal welche in New York weiter feiern, aber im Normalbetrieb gilt es inzwischen als Erfolg, wenn man den eigenen, einst als Praktikum oder Seitenprojekt entworfenen Arbeitsplatz in eine geregelte Form bringen kann. Mit der Folge, dass man, zumindest am Wochenende, wieder ein Privatleben zu entwickeln beginnt, das sich nicht doch noch als Teil der eigenen Unternehmensstrategie verwerten lässt.

Ganz in der Zeit versunken ist das Berlin der Siebziger- und Achtzigerjahre, das mit seinen subventionierten Nischen all den zu kurz Gekommenen eine Chance bot, fernab von Kleinstadt- und Kleinbürgermief auch ohne das nötige Kleingeld den eigenen Bildungsroman zu Ende schreiben zu können. Damals war jeder froh, dass das Biotop ein Ende hatte, heute keimt wieder die Sehnsucht danach. Immerhin: Sogar die etwas hektischeren Neunziger taugten noch für manche Pikareske: Tragikomische Schelme fühlten sich in der zentrumslosen Metropole in den höchsten Etagen der lokalen Politik genauso wohl wie in den tiefsten Kellern des Undergrounds.

Inzwischen haben viele Biografien etwas von einem Desillusionsroman, während in Mitte die S-Klasse paradiert, am Prenzlauer Berg Porsches die Kollwitzstraße rauf und runter brausen und sogar auf der praktisch toten Friedrichshainer West Side besorgte Bielefelder Eltern ihren Kindern schon mal vorsorglich Eigentumswohnungen kaufen. Wer nicht zur Generation der Erben gehört oder es sonstwie verabsäumt, im Verteilungskampf um Jobs und Occasionen genügend Ellenbogen zu zeigen, profitiert höchstens vom programmatischen Songtitel des Hamburger Liedermachers Bernd Begemann: „Berlin war stärker“. Doch es kann auf die Dauer auch Gutes bedeuten, wenn dem Hype die Puste ausgeht. Zwar wurden Teile der Innenstadt telegen hergerichtet, doch während noch Ost-Ecken aufgebrezelt werden, verlieren andere Gegenden schon wieder das bloß behauptete Weltstadtniveau. Fürs Image mag das nicht ganz so gut sein, aber die Mieten sinken, und der Literatur kann es auch nicht schaden. Vielleicht entsteht irgendwann sogar eine neue (Sub-)Kultur jenseits des Tacheles.

Gunnar Lützow