Die Nichte des Generals

Geneviève de Gaulle ist so etwas wie die Gräfin Dönhoff Frankreichs. Eine moralische Instanz. Ähnlich bekannt. Nur dass die Nichte de Gaulles nicht über Politik schreibt, sondern Politik macht. Nach ihrer Befreiung aus dem KZ Ravensbrück hat sich die einstige Kämpferin der Résistance stets für die Obdachlosen in ihrem Land eingesetzt. Die Zeit im Lager?Es gab Wichtigeres. Nun, im Alter von 77 Jahren, hat sie die Erinnerungen an diese Zeit aufgeschrieben. Ein Portrait von Dorothea Hahn

Ein halbes Jahrhundert und vier Jahre sind vergangen, seit Geneviève de Gaulle dem Konzentrationslager Ravensbrück entkam. 54 Jahre. Was sie nach der Rückkehr getan hat? „Glück voll getankt“, sagt die zierliche Frau mit dem streng zu einem Zopf zurückgekämmten Haar. Ihr sei es ja gut gegangen, im Vergleich zu vielen anderen, die ihre Lieben verloren hatten.

Sie hat geheiratet, in schneller Folge vier Kinder bekommen. Sich in der Vereinigung der ehemaligen Deportierten engagiert. Als Zeugin in NS-Verbrecherprozessen ausgesagt. Im Kabinett des charismatischen Kulturministers André Malraux gearbeitet. Und vor allem gegen die Ausgrenzung der sozial Schwachen gekämpft. Dass die Obdachlosen ein Dach über den Kopf bekommen, wurde für die Rückkehrerin bald Priorität. Dafür hat sie jahrzehntelang Gott und sämtlichen französischen Staatspräsidenten – von ihrem Onkel Charles bis hin zu Jacques Chirac – in den Ohren gelegen.

Im Sommer 1998 erreicht Geneviève de Gaulle ein Etappenziel: Die Nationalversammlung stimmt für ein Gesetz gegen die soziale Ausgrenzung, das erstmals das „Grundrecht auf eine Wohnung“ beinhaltet. „Das ist ein Anfang“, sagt Geneviève de Gaulle. „Vieles fehlt noch. Die papierlosen Immigranten zum Beispiel, die sind nicht berücksichtigt.“

Trotzdem atmet sie auf. Sie reist zu ihrem Sohn in die Provence, kaum ist das lang erkämpfte Gesetz im Amtsblatt erschienen. Sie ist 77 Jahre alt, sie hat ihren „leidenschaftlich geliebten“ Mann verloren, sie will ihre Enkelkinder sehen, sie hat eine unheilbare Krankheit und sie will sich erholen.

Und plötzlich tritt, über ein halbes Jahrhundert danach, das dunkelste Kapitel ihres eigenen Lebens, die fünf Monate im Bunker von Ravensbrück, in den Vordergrund. Die alte Dame greift zu Stift und Papier und stellt zum ersten Mal sich selbst in den Mittelpunkt. Sie schreibt über die fünf Monate im Bunker von Ravensbrück. Darüber, was sie in ihrer Isolierzelle dachte, was sie träumte. Dass sie betete. Dass sie Angst hatte und dass sie sich dafür schämte. Nur zwei Wochen später ist sie fertig. Sie hat geschrieben, ohne ein einziges Mal innezuhalten und ohne zu radieren. „Es war ja alles in mir“, sagt sie. Immer, jeden einzelnen Tag ihrer Existenz danach, habe sie daran gedacht. Viele Sätze lagen jahrelang fertig in ihrem Kopf. Einzelne Passagen ihres Buches hatte sie vielfach erzählt.

Geneviève de Gaulle wollte das, was sie aufgeschrieben hat, ihren Kindern vorlesen. An eine Veröffentlichung dachte sie nicht. „Es gibt ja schon viel darüber“, sagt sie, die nie zuvor ein Buch geschrieben hatte. Zum Glück verhindern die Kinder, dass dieses en famille bleibt.

„La traversée de la nuit“ ist eines der intensivsten Bücher, die je über ein KZ erschienen sind. Im Präsenz und der ersten Person geschrieben, führt es so unmittelbar in die Hölle ein, dass es beim Lesen weh tut. Die Autorin ist in jene Zeit vor über einem halben Jahrhundert zurückgekehrt, als hätte sie sie nie verlassen.

Geneviève de Gaulle hat gerade ihren 24. Geburtstag in einer KZ-Baracke gefeiert. Zwei SS-Leute holen sie aus dem Kreis ihrer Leidensgefährtinnen und bringen sie in den Bunker. Als die schwere Zellentür hinter ihr ins Schloss fällt, ist die junge Frau allein. Sie überlegt, was ihr bevorsteht. Die Hinrichtung? Ein von Kugeln durchlöchertes blutiges Kleid, ein durchgestrichener Name im Lagerregister? Die Stockschläge, die kaum eine Gefangene überlebt? Die Amputationen, die die jungen Polinnen über sich ergehen lassen müssen, die an improvisierten Krücken durch das Lager hüpfen?

Die junge Frau bleibt monatelang – von Oktober 1943 bis April 1944 – isoliert. Sie ahnt, dass diese Sonderbehandlung etwas mit ihrem Onkel zu tun hat, den Berlin erpressen will. Aber Informationen hat sie nicht. Ihre Kontakte zur Außenwelt beschränken sich auf die gefangene Zeugin Jehovas, die ihr Essen bringt, einen SS-Mann, der ihr wortlos eine Spritze in die Brust jagt, die Kakerlaken, an die sie Brotkrümel verfüttert, und auf den beißenden Geruch aus den benachbarten Verbrennungsöfen.

Das im Französischen nur sechzig Seiten lange Buch ist in Paris bereits im Herbst vergangenen Jahres erschienen. Jetzt wird es auch in Deutschland, in England, Italien und den USA veröffentlicht. In Frankreich, wo der Verlag Le Seuil ursprünglich von maximal zwanzigtausend verkaufbaren Exemplaren ausging, hat es längst die Hunderttausendergrenze überschritten. Schulklassen benennen sich nach Geneviève de Gaulle. Täglich kommen Briefe von alten Deportierten und jungen Lesern im Briefkasten der de Gaulleschen Wohnung im gutbürgerlichen 6. Pariser Arrondissement an.

Der Erfolg hat auch mit dem Namen der Autorin zu tun. Da ist nicht nur der Onkel, einer der historischen Chefs der Résistance und spätere Staatspräsident, der stolz auf seine Nichte war, die sich als Studentin in Paris einer Widerstandsgruppe anschloss, bevor sie der Gestapo in die Hände fiel. Da ist vor allem die erstaunlich geradlinige eigene Vita von Geneviève de Gaulle. Die junge Historikerin, Ex-Résistante und „Nichte des Generals“ hätte nach dem Krieg eine Spitzenkarriere machen können. Aber sie beharrte auf den beiden Hauptthemen ihres Lebens: dem Kampf gegen das Vergessen und jenem gegen die Ausgrenzung. Ihnen widmete sie ihre ganze Kraft. Und ließ sich nicht vereinnahmen.

Weder von rechts noch von links.

Politisch blieb sie „ihrem“ Pater, Joseph Wresinski, treu. Er führte die Bürgersfrau 1958 erstmals in einen Slum vor den Toren von Paris. Und mit ihm kämpfte sie seither statt für Wohltätigkeit für die Integration der sozial Schwachen. Nach seinem Tod leitete sie selbst die von ihm gegründete Organisation ATD Quart Monde, die heute nicht nur in Frankreich, sondern weltweit vertreten ist, wo die Armut zunimmt. Auch in Deutschland.

Persönlich blieb sie im Hintergrund. Zu ihren Audienzen in den Palästen der Republik erschien sie regelmäßig in Gesellschaft von Obdachlosen. Und bei ihren seltenen Medienauftritten sprach sie nicht über sich, sondern über die Sache. Mit einer Eindringlichkeit, die sie sich bis in ihr hohes Alter bewahrt hat.

Auch wenn sie jahrzehntelang wenig darüber gesprochen hat, waren die Zeit in der Résistance und der „Aufenthalt in Ravensbrück“, wie sie selbst sagt, die Schlüsselerlebnisse im Leben von Geneviève de Gaulle. Die junge Frau aus einer streng katholischen Familie hatte unter Anleitung ihres Vaters sehr früh „Mein Kampf“ gelesen und wusste, worum es ging. Sie hatte auch schon sehr früh einen Begriff von Ehre: „Ein Instinkt, wie die Liebe.“ Und sie war und ist überzeugt davon, dass Menschen, „wenn sie nur den Willen dazu haben, den Lauf der Geschichte beeinflussen können“.

Im KZ Ravensbrück kam die Erkenntnis hinzu, dass Menschen zum Schlimmsten und zum Besten fähig sind. Beides beschreibt sie in ihrem Buch.

In der Nacht im Februar 1944, als die junge Frau zum KZ-Häftling Nummer 27.373 wurde, sah sie an der Rampe von Ravensbrück schwankende Silhouetten, „noch lebende Wesen, die bereits keinen Blick mehr hatten“. Gesichter, die so von „unmenschlicher Verzweiflung“ gezeichnet waren wie „kein zum Tode Verurteilter und kein Gefolterter“. Statt Mitleid lösten sie bei ihr Hoffnungslosigkeit aus. Sie dachte an Dantes „Hölle“. Und sie verstand schlagartig den „Sinn der Welt der Konzentrationslager“.

Das war: „Etwas viel Schlimmeres als der Tod, nämlich die Zerstörung unserer Seele.“

Gegen diese Zerstörung hat Geneviève de Gaulle gekämpft. Auch nachdem sie das Lager verlassen hatte. Seit sie 1958 im Slum von Nosy-le-Grand denselben Ausdruck von menschlicher Verzweiflung und Erniedrigung in den Gesichtern wieder fand, stellte sie den Widerstand gegen diese andere Ausgrenzung in den Mittelpunkt ihres Lebens. „Wir dürfen nicht vergessen“, sagt sie, „aber das Erinnern darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch heute Verantwortungen haben, für die wir gerade stehen müssen.“

Vielleicht liegt es auch daran, dass Geneviève de Gaulle „La traversée de la nuit“ erst so spät geschrieben hat. Sie war ohnehin und immer mit dem Kampf gegen die Ausgrenzung beschäftigt. Und sie ist es auch heute noch. „Unsere Gesellschaften produzieren weiter Ausgrenzung“, sagt sie, „heute sind wir auf dem Weg zu einem neuen Totalitarismus – dem Totalitarismus des Geldes.“ Die „große Armut“ sei an der Schwelle zum 21. Jahrhundert schlimmer, „zwar lebt die Arbeiterklasse besser als vor dem Krieg, aber die Zahl jener, die Karl Marx verächtlich ,Lumpenproletarier‘ nannte, nimmt zu. Die unqualifizierten kleinen Jobs sind wegrationalisiert worden. Die Industrien sind in Billiglohnländer abgewandert. Wer jetzt seine Arbeit und dann auch noch seine Wohnung verliert, wird schnell ein Ausgestoßener.“

Seit ihr Buch fertig ist, widmet sich Geneviève de Gaulle wieder der Gegenwart. Vor zwei Wochen war sie zuletzt bei Staatspräsident Jacques Chirac. In Begleitung einer Gruppe von Obdachlosen hat sie ihn daran erinnert, dass er bei seiner Wahl den „Kampf gegen den sozialen Bruch“ versprochen hat.

Geneviève de Gaulle Anthonioz: „Durch die Nacht“. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Arche, Hamburg 1999, 95 Seiten, 28 Mark