Befreiung von der serbischen Fessel

Dass die jugoslawische Teilrepublik Montenegro unabhängig wird, ist längst beschlossene Sache. Fraglich ist nur noch, wann und wie. Vor allem die wirtschaftliche Misere lasten die Montenegriner Belgrad an  ■ Aus Podgorica Paul Hockenos

„Die Serben sind völlig anders als wir Montenegriner. Sie haben Montenegro ausgebeutet und uns dazu gebracht, für sie in den Krieg zu ziehen.“

Noch weht die blauweißrote jugoslawische Flagge auf der Passstraße, die den südlichsten Zipfel Kroatiens mit Montenegro verbindet. Und die Handvoll montenegrinischer Zöllner und Grenzsoldaten in der baufälligen Grenzstation, die in den kalkweißen Felshang hineingebaut ist, trägt die Uniform der Bundesrepublik Jugoslawien, die aus Serbien und Montenegro besteht. Aber hier an der Grenze, wie in der gesamten Republik Montenegro, haben die Hoheitszeichen Jugoslawiens nur noch symbolischen Wert. Für die slowenischen, bosnischen und österreichischen Lastwagen, die die Grenze passieren, gelten neue montenegrinische Handels-, Zoll- und Visabestimmungen, und sie sind auch von den UN-Sanktionen gegen Serbien nicht betroffen.

Schritt für Schritt löst sich die Küstenrepublik mit 650.000 Einwohnern von dem Land, in dem Slobodan Milošević das Sagen hat. Für viele hier ist ausgemacht, dass Montenegro unabhängig wird, die Frage ist nur noch, wann. Und es geht nicht mehr darum, ob Milošević das duldet, sondern nur um die Art seiner Reaktion. Die fiel Ende des vergangenen Jahres erstaunlich moderat aus. Da bezeichnete Jugoslawiens Präsident Slobodan Milošević die Unabhängigkeit Montenegros in einem Interview mit der Belgrader Zeitung Politika als denkbar. Wenn die Montenegriner ein Leben außerhalb Jugoslawiens für besser hielten, dann hätten sie das Recht, sich dafür zu entscheiden, sagte er.

Dessen ungeachtet ist Montenegros dabei, eigene militärische Strukturen aufzubauen, um für einen gewaltsamen Konflikt gerüstet zu sein. Der ist nicht ausgeschlossen. Anfang Dezember besetzten jugoslawische Truppen kurzzeitig den Flughafen von Podgorica, um eine montenegrinische Kontrolle des Airports zu verhindern. Auch die schrillen Töne in den staatlichen Medien – auf beiden Seiten – erinnern an die Propagandaschlachten, mit denen die früheren Kriege eingeleitet wurden.

Die beiden Republiken entwickeln sich nun rasch auseinander. Seit über zwei Jahren sind keine Bundesgesetze in Kraft, die föderalen Institutionen arbeiten nicht mehr. Die vom Westen unterstützten Reformen in Montenegro haben bei der Belgrader Regierung Empörung ausgelöst und wurden mit einer Verdopplung der Einfuhrzölle für Montenegro und der Unterbrechung der Bankverbindungen zwischen den beiden Ländern quittiert.

Anders als Serbien durchläuft Montenegro derzeit einen Prozess der Erneuerung, der charakterisiert ist durch die Öffnung gegenüber dem Westen und den Nachbarn auf dem Balkan, den Aufbau einer Zivilgesellschaft und das Eintreten für ethnische Toleranz. Die von den UN verhängten Beschränkungen von Auslandsinvestitionen, Energieversorgung und Luftverkehr, die nach wie vor weite Teile Serbiens treffen, gelten für Montenegro nicht mehr.

Im November hat das Land die Deutsche Mark als Parallelwährung zum schwachen jugoslawischen Dinar eingeführt. Jetzt wird in den Medien bereits diskutiert, ob der Dinar nicht gänzlich abgeschafft werden soll. „Montenegro ist auf dem Weg in die Unabhängigkeit“, meint Milka Tadić von der Wochenzeitschrift Monitor. „Die Anzeichen sind nicht zu übersehen. Die Parallelwährung dürfte das Ende des jugoslawischen Bundesstaats einläuten. Wenn es keine gemeinsame Währung mehr gibt, wäre die letzte Gemeinsamkeit mit den Serben die jugoslawische Armee.“

Die eifrigsten Verfechter der Unabhängigkeit wollen so schnell wie möglich eine Volksabstimmung durchführen. Montenegros Präsident Milo Djukanović bestreitet sezessionistische Absichten. Er spricht von einer „neuen Partnerschaft“ zwischen den beiden Republiken und davon, dass Montenegro in der Föderation mehr Autonomie brauche. Nur eine der drei Parteien in der Regierung tritt für die Staatsgründung ein. Und bei aller Unterstützung von Djukanović’ Reformen rät auch der Westen von einem vollständigen Bruch mit Serbien ab.

Es wird nicht einfach sein, den Trend aufzuhalten. In der Bevölkerung herrscht eine tiefe Abneigung gegen das Regime in Belgrad, vor allem die Person Milošević ist verhasst. Und das staatliche Fernsehen zeigt Aufnahmen, in denen Milošević mit dem brutalen Milizenführer Arkan zu sehen ist. „Serbien ist eine Diktatur, in der sehr rückständige politische Kräfte an der Macht sind“, erklärt Montenegros stellvertretender Ministerpräsident Dragisa Burzan. „Wir vertreten ganz andere Positionen, vor allem was die Orientierung des Staates angeht. Wir wollen moderne Perspektiven, nicht das, was sie in Serbien haben.“

In den frühen 90er-Jahren hatte das Milošević-Regime bei den meisten Montenegrinern begeisterte Zustimmung gefunden, auch für seine Kriege, gegen Kroatien und Bosnien. Bei den Wahlen von 1997 verteilten sich die Stimmen fast genau zu gleichen Teilen auf eine Partei, die Milošević unterstützte, und auf jene Kräfte, die immer mehr auf Distanz zu Belgrad gingen. Heute zeigen Meinungsumfragen, dass zwei Drittel der Montenegriner unumwunden für die Unabhängigkeit votieren. „Wir können Geschäfte mit Serbien machen, gute Geschäfte“, sagt Milos Vuković, der den florierenden „Mediterranean McMini Market“ im Zentrum von Podgorica betreibt. „Aber nicht, solange die Dinge so stehen, wie jetzt unter Milošević.“ Er schüttelt den Kopf. „Das ist Wahnsinn.“

Große Verbitterung hat der ungebremste Niedergang der montenegrinischen Wirtschaft bewirkt. Nachdem die meisten Industriebetriebe die Produktion eingestellt haben, liegt die reale Arbeitslosenquote bei 80 Prozent. Und durch den Kosovo-Krieg sind auch die Einnahmequellen aus dem Tourismus an Montenegros malerischer Adriaküste versiegt. Die internationalen Sanktionen blockierten den Export und ließen den Schwarzmarkt blühen. Korruption ist hier weit verbreitet, bis hinein in die höchsten Regierungskreise. Regierungsvertreter machen kein Hehl daraus, dass Schmuggelgeschäfte, vor allem mit Zigaretten, eine wichtige Einkommensquelle darstellen und dazu beitragen, das Haushaltsdefizit auszugleichen.

Die katastrophalen Erfahrungen mit Belgrad haben zur Entstehung einer deutlich ausgeprägten montenegrinischen Identität beigetragen. Bis vor kurzem betrachteten sich die meisten Montenegriner – serbokroatisch sprechende Slawen, die der russisch-orthodoxen Kirche angehören – als Mitglieder der serbischen Volksgruppe. Nun wächst die Zahl derer, die auf die Unterschiede in Geschichte und Tradition und sogar in der Sprache verweisen und erklären, sie seien keine Serben und seien es nie gewesen. „Wir haben nie zu Serbien gehört“, meint Stevo Vasiljević, ein Fotograf. „Die Serben sind anders als wir Montenegriner. Sie haben Montenegro ausgebeutet und uns dazu gebracht, für sie in den Krieg zu ziehen.“

Es gibt auch ganz andere Ansichten. Eine nicht unerhebliche Zahl von Montenegrinern hält Milošević die Treue und sieht in ihm noch immer den Verteidiger serbischer Interessen. Andere halten zwar nichts von Milošević, identifizieren sich aber mit Serbien. „Die Montenegriner sind Serben“, erklärt Pedrag Lubavić von der monarchistischen Tageszeitung Stimme Montenegros. „Unsere Politiker versuchen jetzt, diese nationale Identität auszulöschen, weil sie die Macht wollen. Aber das ist alles eine große Lüge.“

Hochburgen der proserbischen Kräfte sind die an Serbien grenzenden nördlichen Landesteile Montenegros. „Dass wir uns von Serbien abspalten sollen, ist das Dümmste, was ich je gehört habe“, sagt Borka, eine Lehrerin. „Als wir noch alle zusammen in Jugoslawien lebten, hat es uns an nichts gefehlt. Jetzt haben wir fast nichts, und wenn wir unabhängig werden, wird es noch weniger sein. So ein winziges Fleckchen wie Montenegro kann kein Staat werden.“

Überall in den engen Straßen von Podgorica sieht man Geländewagen mit den Symbolen und Namenskürzeln von internationalen Hilfsorganisationen und NGOs. Die internationale Gemeinschaft tut einiges, um Montenegro bei seinen Reformbemühungen zu unterstützen. Kritiker meinen aber, dass Montenegro mit aufmunternden Worten und einzelnen Aktionen nicht geholfen sei. Was das Land brauche, um seine Wirtschaft auf neuen Kurs zu bringen, seien Investitionen und Kredite. „Solange unser Land ein Teil Jugoslawiens ist, haben wir keinen Zugang zu internationaler Finanzhilfe“, erklärt der Wirtschaftsexperte Nebosja Medovic und verweist darauf, dass Jugoslawien von den Programmen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds ausgeschlossen ist. „Das bedeutet auch, dass die Regierung hier tun und lassen kann, was sie will. Es gibt keine Gesamtplanung, keine Kontrolle der Reformen.“ Medović ist überzeugt, dass die Nomenklatura Teile des Staatseigentums zu Niedrigstpreisen aufkauft. „Das funktioniert genau wie in Russland.“

Viele Montenegriner, die für die Unabhängigkeit eintreten, werfen der internationalen Gemeinschaft eine unredliche Haltung vor. Sie begrüße die Reformbemühungen, sei aber nicht bereit, ernsthaft Wirtschaftshilfe zu leisten oder die Staatsgründung zu unterstützen. Mihailo Banjević, Direktor von Aluminijuma Kombinat, der ehemals größten Aluminiumfabrik Jugoslawiens, fasst es ironisch zusammen: „Wir kriegen schon blaue Flecken, so oft wie man uns auf die Schulter klopft. Aber was haben wir davon?“

Die Erklärung ist einfach: Niemand will einen fünften Balkankrieg riskieren. Und dass ein solcher Konflikt droht, ist unübersehbar, auch wenn die Regierung Djukanović umsichtig vorgeht und in ständigen Verhandlungen mit den serbischen Stellen steht. Mit Duldung der Regierung haben die Verfechter der Unabhängigkeit inzwischen Milizen aufgestellt, die im Falle einer Intervention aus Belgrad die Republik verteidigen sollen. Eine davon nennt sich „Montenegrinische Befreiungsbewegung“. „Das ist riskant“, erklärt der stellvertretende Ministerpräsident Bursan. „Aber die Fortsetzung der Verbindung ist ein größeres Risiko. Wir haben Vorkehrungen zu unserem Schutz getroffen.“

Nach Ansicht mancher Beobachter ist Milošević zu sehr geschwächt, um einen weiteren Krieg durchzustehen. Andere glauben, der Zugang zu Montenegros Küste sei für Serbien wirtschaftlich und geostrategisch so bedeutend, dass Milošević die vollständige Unabhängigkeit des Landes unbedingt verhindern müsse. „Alles hängt davon ab, ob Milošević entschlossen ist, einen blutigen Krieg in Montenegro zu führen“, meint Milka Tadić von Monitor. „Wenn er will, kann er uns viele Probleme bereiten.“