Die SPD ist wieder im Aufwind. Aber sie verliert immer mehr Stammwähler. Wollen die Sozialdemokraten künftig Wahlen gewinnen, müssen sie einen eigenen „Dritten Weg“ entwickeln
: Licht am Ende des Tunnels

Die Fragmentierung der Wählerschaft stellt die Volksparteien vor neue Probleme

Unverhofft kommt oft! Diese alte Weisheit scheint in diesen Tagen insbesondere der SPD zugute zu kommen. Während die Partei vor einigen Wochen nach einer Serie von vernichtenden Wahlniederlagen am Ende schien, hat sie sich – Philipp Holzmann und Helmut Kohl sei Dank – aus ihrem Stimmungstief herausarbeiten können. Seit dem Parteitag Anfang Dezember blicken die Sozialdemokraten sogar den beiden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen mit Optimismus entgegen. Angesichts des unerwarteten Aufschwungs laufen sie allerdings Gefahr, die strukturellen Probleme zu verdrängen, mit denen die Partei auch in Zukunft konfrontiert sein wird. Weder für die CDU noch für die SPD wird es mittelfristig reichen, sich jeweils auf Kosten des anderen zu sanieren. Die Frage, auf die auch die SPD bisher keine Antwort hat, ist, wie angesichts der vor sich gehenden Veränderungen im Wahlverhalten in Zukunft ein politisches Bündnis geschmiedet werden kann, das sowohl sozialdemokratischen Gerechtigkeitsvorstellungen Genüge tut als auch den Modernitätsvorstellungen neuer Wählerschichten entgegenkommt.

Die seit langem in der empirischen Wahlforschung beobachtete Tendenz der sozialen, kulturellen und politischen Fragmentierung der Wählerschaft stellt vor allem die Volksparteien vor neue Probleme. Die Anzahl der Traditionswähler ist so weit geschrumpft, dass sie immer weniger wahlentscheidend ist. Bei Enttäuschungen über das aktuelle Politikangebot der von ihnen präferierten Partei neigen gerade diese Wähler zunehmend zur Wahlenthaltung. Stark gewachsen ist dagegen das Spektrum der politisch unberechenbaren, flexiblen und mobilen Wähler, die kontext- und situationsbezogen wählen. Je nach aktueller Stimmungslage und Politikperformance der einzelnen Parteien vergeben diese Wähler ihre Stimme. Dabei sind einige überraschende Effekte festzustellen: Die Querrotation dieser Wähler nicht nur zu „benachbarten“ Parteien, sondern auch zu politischen Kontrahenten, ist durchaus nicht mehr ungewöhnlich. So wechselten im Saarland mehr Grünen-Wähler zur CDU als zur SPD. Offensichtlich war es ein kluger Schachzug des CDU-Spitzenkandidaten Peter Müller, einen Vertreter der Umweltverbände in seine potenzielle Regierungsmannschaft aufzunehmen. Auch Austauschprozesse zwischen den beiden Volksparteien finden zum Teil in erheblichen Größenordnungen statt. Bei der Bundestagswahl 1998 gewann die SPD von der CDU mehr als 1,6 Millionen Stimmen.

Eine weitere bemerkenswerte Tendenz ist die Annäherung des Wählerverhaltens in Ost und West, auch wenn es ganz unterschiedliche Gründe hat. Im Westen hat die Milieubindung an bestimmte Parteien kontinuierlich abgenommen, während sie im Osten, mit Ausnahme der PDS, nur schwach ausgeprägt ist. „Der“ Ostwähler ist daher eher noch mobiler und stimmungsabhängiger als der Westwähler, gleichzeitig in Bezug auf seine Wahlentscheidungskriterien stärker auf Personen als auf Inhalte fixiert.

Die Diskussion um die so genannte neue Mitte ist auch ein Reflex auf die hier angedeuteten Veränderungen innerhalb der Wählerschaft. Es spricht einiges dafür, dass diese Veränderungen die Parteien in Zukunft zwingen werden, stärker als bisher von Wahl zu Wahl neue milieuübergreifende Wählerbündnisse anzusteuern. Zentral für neue Wahlkampfstrategien wird sein: die eigene Kernwählerschaft maximal mobilisieren und gleichzeitig die politisch interessierten, aber enorm flexiblen Wähler an sich binden. Das Problem besteht darin, dass die „neue Mitte“ gegenwärtig noch keine klaren Konturen hat. Es handelt sich um eine frei vagabundierende und heterogene Wählermasse, die nur schwer zu qualifizieren ist. Man könnte sich die neue Mitte vielleicht als ideelle Schnittmenge aus postmodernen Jungwählern und traditionsbewussten, aufgeklärten Altwählern, aus Wählern aus modernen Dienstleistungszentren und klassischen Industriebetrieben, aus bürgerlich-liberalen und ökologisch-angegrünten Milieus vorstellen. Die Wähler der neuen Mitte erwarten politischen Gestaltungswillen statt administratives Abarbeiten von Problemen, ein pragmatisches Politikangebot statt ideologische Bekehrung, auf Zukunftsfähigkeit angelegte soziale Strukturreformen statt sozialstaatliche Beglückung durch Alimentierung, ein ausgewogenes Verhältnis von staatlicher Fürsorge und individueller Eigenverantwortung. Dabei sind sie im Hinblick auf ihre Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit aber keinesfalls so „herzlos“, wie eine neoliberale Interpretation nahelegen könnte. Bloße Privatisierungsstrategien, die nur auf Kostendämpfung und die Ausschöpfung von Sparpotenzialen zielen, sind mit dem Gerechtigkeitsempfinden dieser Wähler kaum zu vereinbaren. Eine Strategie, die auf die politische Mobilisierung der neuen Mitte zielt, muss sich vielmehr in Abgrenzung zu der neoliberalen Agenda auf ein „grundwerteorientiertes, aber pragmatisches Verständnis der sozialen Demokratie“ (Thomas Meyer) einlassen und gleichzeitig die Vorteile einer staatlich nicht kontrollierten Marktwirtschaft mit den Solidaritätspotenzialen einer freien und aktiven Bürgergesellschaft verbinden.

Im Bundestagswahlkampf 1998 hatte Bodo Hombach, die Erfahrungen der New Democrats in den USA und der New Labour-Partei von Tony Blair aufgreifend, ein Konzept erarbeitet, mit dem Gerhard Schröder erfolgreich die neue Mitte umwerben konnte. Die für sozialdemokratische Traditionen ungewohnte Agenda dieses Konzepts – mehr Markt, mehr Eigenverantwortung, weniger Staat – brachte Schröder zwar keine große Sympathie in der eigenen Partei ein, war aber eine entscheidende Voraussetzung des Wahlerfolgs der SPD. Hinzu kam, dass die Neuinterpretation klassischer sozialdemokratischer Gerechtigkeitsvorstellungen in der Theorie des Dritten Weges damals durch die gegensteuernde Rhetorik von Oskar Lafontaine relativiert wurde. Tatsächlich aber war das Konzept der neuen Mitte in großen Teilen der Partei überhaupt nicht verankert. Das unterscheidet die Lage in der SPD bis heute ganz wesentlich von New Labour in England. Nachdem Neil Kinnock und John Smith bereits den Schutt von Old Labour abgeräumt hatten, brauchte Tony Blair den Prozess der Modernisierung der englischen Sozialdemokraten nur noch vollenden. Schröder dagegen steht, nachdem Lafontaine abgetreten ist, als Parteivorsitzender vor der undankbaren Aufgabe, der Partei den neuen Kurs Stück für Stück näherzubringen – keine leichte Aufgabe für einen Kanzler, der seine Partei eher präsidial führt und dem das sozialdemokratische Herzblut seines Vorgängers fehlt.

Die CDU macht einen schweren Fehler: Sie hält die „neue Mitte“ für eine Worthülse

Dennoch ist die Situation nach Lafontaines Abgang im Grunde für Schröder leichter geworden. Es gibt innerhalb der SPD-Linken weder personell noch programmatisch zurzeit eine ernsthafte Alternative zu Schröder und seinen Bemühungen, die SPD auf die Idee des Dritten Weges einzuschwören. Das Schröder/Blair-Papier hat bei allen Schwächen die verschiedenen Kräfte innerhalb der Partei gezwungen, sich auf diese Diskussion zu beziehen. Allenfalls die Frage, wie eine deutsche Variante des Dritten Weges aussehen könnte, dürfte in den weiteren programmatischen Diskussionen innerhalb der SPD eine wichtige Rolle spielen. Der Vorteil der SPD ist, dass sie – im Unterschied zur CDU – die programmatische Diskussion um den Dritten Weg und die neue Mitte immerhin aufgenommen hat. Die Einschätzung der CDU-Generalsekretärin Angela Merkel, dass die CDU diese Debatte längst hinter sich habe und dass es sich bei den Begriffen „Dritter Weg“ und „neue Mitte“ nur um „Worthülsen“ handele, könnte sich für die Union als verhängnisvoller Fehler herausstellen. In einem Punkt könnten Schröder und die Verfechter des Dritten Weges allerdings von Merkel lernen. Fast schon in sozialdemokratischer Überbietung betont sie, dass „die Vereinbarung von Markt und Menschlichkeit“ das Ziel der Union sei. Die neuen Töne, die in Bezug auf die soziale Gerechtigkeitskomponente in der Rhetorik des Dritten Weges in den letzten Wochen vom Kanzler zu hören waren, lassen hoffen, dass die SPD nach den desaströsen Wahlniederlagen des vergangenen Jahres dies auch „verstanden“ hat. Lothar Probst