Mütter, Monster, Mitmenschlichkeit

Gar nicht so einfach: unpathetische Filme über die Leidenschaftlichkeit handelnder Menschen. Das Arsenal-Kino zeigt als Bestandteil der Veranstaltungsreihe „Japan in Berlin“ den ersten Teil einer großen Retrospektive japanischer Spielfilme ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Japan ist prima! Zurzeit steht im Rahmen des von der Berliner Festspiele GmbH veranstalteten „Eventkomplexes“ (Tagesspiegel) „Japan in Berlin 1999/2000“ eine umfangreiche Retrospektive des japanischen Films auf dem Arsenal-Programm, deren erster Teil noch bis Ende Februar zu sehen ist. Gezeigt werden über fünfzig Filme des klassischen japanischen Kinos von der Stummfilmzeit bis zu Oshimas „Die Zeremonie“ von 1971. Demnächst gibt es dann im neuen Arsenal-Kino am Potsdamer Platz einen umfangreichen zweiten Teil mit japanischen Filmen aus den äußerst lebendigen Neunzigerjahren. Die Siebziger- und Achtzigerjahre bleiben ausgespart.

Das ist einerseits schade, andererseits dürften Oshimas skandalöser Film „Im Reich der Sinne“ (1976), Sogo Ishis durchgedrehte „Familie mit umgekehrtem Düsenantrieb“ (1984) oder Kurosawas großartiges Schlachtengemälde „Ran“ (1985) hinlänglich bekannt sein und werden ja auch immer noch gerne ab und zu in den Kinos gezeigt. Außerdem wurde diese Epoche schon bei der letzten großen Japan-Film-Retrospektive 1993 ausgiebigst gewürdigt.

Die klassischen japanischen Filme gehen so: Schiebewand auf, unendlich lang auf Reismatten sitzen, stets lächelnd höfliche Worte austauschen, Schiebewand zu, drei Stunden vorbei. Oder Samurais kämpfen so unerschrocken wie gefasst in Einstellungen, die noch den Einfluss des Kabuki-Theaters verraten, oder mittelständische Angestellte geraten in komplizierte Alltagskonflikte, die mit den Mitteln der generell überlegenen asiatischen Sozialtechniken gelöst werden – oder auch nicht.

Und das Tollste, was man zu Hause am Videorecorder dann nachmachen kann: Wenn man die Filme der großen alten japanischen Regisseure – Kurosawa, Mizoguchi oder Ozu –, die es unter anderen auch in der Amerikanischen Gedenkbibliothek gibt, irgendwo anhält, ist das Standbild immer großartig und enthält auch im Hintergrund nichts, das überflüssig wäre.

Die Regisseure des klassischen japanischen Films griffen nicht nur auf die japanische Theatertradition zurück (Kabuki, später auch das No-Theater), sondern orientierten sich vor allem auch an der amerikanischen und deutschen Kinematografie.

Gerade der Einfluss des Expressionismus ist nicht zu unterschätzen. Akira Kurosawa etwa, der international wahrscheinlich berühmteste japanische Regisseur, nennt in seiner Liste der Filme, die ihn am meisten beeinflusst haben, neben anderen Ernst Lubitsch, G. W. Pabst, F. W. Murnau, Erich Stroheim und Robert Wiene.

Trotzdem wurde der japanische Film bis in die Achtzigerjahre vor allem wegen seiner angeblichen Traditionsverbundenheit (Zen und so) auch in Deutschland sehr geschätzt. Zwei deutsche Regisseure bezogen sich ganz ausdrücklich auf den japanischen Film: Wim Wenders und Herbert Achternbusch. Nur konnten sie leider keine Geschichten erzählen oder sie endeten, wie Wenders, in den gestylten Bildern belanglosen Kunstgewerbes, mit allerlei Sehnsuchtskitsch aufgepeppt.

Die Geschichte des japanischen Films begann 1898. Zunächst pflegte man traditionelle Theaterstücke abzufilmen. 1919 begann die „Bewegung für den reinen Film“ die Orientierung am europäischen und amerikanischen Kino zu forcieren. Vom Anfang des Filmschaffens bis weit in die Sechzigerjahre konkurrierten im japanischen Kino zwei Sparten miteinander: die jidaigeki genannten und vom Kabuki-Theater beeinflussten historischen Dramen – meist Samuraifilme, die in der Feudalzeit spielten und deren Werte oft genug hochhielten – standen den gendaigeki genannten zeitgenössischen Dramen gegenüber.

Während sich die an der Filmkunst interessierten Japaner vor allem gerne zeitgenössische Filme anguckten, wurde das Filmland Japan seit den Fünfzigerjahren international vor allem durch jidaigeki-Filme berühmt, wobei die im Ausland bekanntesten Filme dieses Genres – Kurosawas „Die sieben Samurai“ und „Yoyimbo“ – eher untypisch für das Genre waren, interessierten sie sich doch auch für soziale Fragen (etwa das Verhältnis zwischen Samurai und Bauern in den „Sieben Samurai“).

Einer der Gründe, weshalb die im zeitgenössischen Japan spielenden Filme im Ausland zunächst eher auf Ablehnung stießen (die Filme Ozus etwa wurden erst dreißig Jahre nach ihrem Entstehen im Westen wahrgenommen), hätte darin gelegen, dass sich Japaner, die in westlichen Kleidern auf Strohmatten hocken, nicht so schön filmen ließen, so der japanische Filmwissenschaftler Tadao Sato. Mittlerweile gilt Yasujiro Ozu gemeinhin als der größte japanische Regisseur, und als Filmkritiker aus aller Welt 1993 in der britischen Zeitschrift Sight & Sound die besten zehn Filme aller Zeiten wählten, belegte sein Film „Tokyo Monogatari“ (Tokyo Story) den dritten Platz.

Obwohl im drittgrößten Filmland der Welt, das 1928 und 1958 sogar mehr Filme produzierte als Indien oder die USA, die Massenware vorherrschte, wurden aber vor allem „Autorenfilmer“ wie Ozu, Mizoguchi, Kurosawa oder Kinoshita berühmt, die zwar fest bei bestimmten rein auf Kommerz ausgerichteten Studios angestellt waren, aber dort machen konnten, was sie wollten.

Andere, wie etwa der großartige Seijun Suzuki, hatten nicht so viele Freiheiten. Sie drehten Genre-Filme, deren Handlungsmuster eher stereotyp war und wenig Freiheit für eigene Ideen ließ. Die Meisterschaft des auf Actionfilme spezialisierten Seijun Suzuki bestand darin, die ihm vom Studiochef übergebenen Drehbücher so zu verändern, dass noch etwas Eigenes herauskam – was zu großartigen Filmen führte, allerdings auch zu seiner Kündigung. Als Genres gab es nicht nur die melodramatischen Mütterfilme, Action- oder Yakuza-Filme, Wanderfilme und Monsterfilme, sondern auch so klingende Sparten wie „Mitmenschlichkeit in den Geschäftsvierteln“ und seit den 60er-Jahren eine unglaubliche Masse an Pornofilmen.

An diversen Erneuerungsbewegungen ist das japanische Kino reich. Ende der Fünfzigerjahre wandten sich junge Filmer wie Yasuzo Masumura, Shohei Imamura und Nagisa Oshima sowohl gegen die ihrer Meinung nach vorherrschende Richtung eines von einem „sentimentalen Humanismus“ geprägten „naturalistischen Realismus“ (Yasuzo Masumura) als auch gegen die ihrer Meinung nach zu idealistischen Filme der linken Filmemacher.

Stattdessen bejahten sie die Leidenschaftlichkeit aktiv handelnder Menschen, selbst wenn sie die Realität nicht beachteten. Leidenschaft und Launen schienen ihnen wichtiger zu sein als Moral und Ideologie. Dies gilt mehr oder weniger bis heute, wobei man über den großartigen Humor in japanischen Filmen auch noch ziemlich lang reden könnte.

Pathos scheint den Japanern – trotz einer erstaunlichen Vorliebe für Beethoven – fremd zu sein. Die Dialoge werden mit ruhiger Stimme vorgetragen; wenn man von traurigen Dingen erzählt, entschuldigt man sich danach mit einem Lächeln.

Der schönste Kurzdialog eines japanischen Films („Tokyo Monogatari“) geht so: „Das Leben ist doch sehr enttäuschend.“ (Lächeln) – „Ja, da hast du recht.“ (Lächeln)Arsenal-Kino, Welserstr. 25