Umgeben von Orangen

Silvester mit Ente: „Seit gestern habe ich Victor Hugo nicht mehr gesehen ... ihr Schweine, ihr herzlosen Scheißer!“ Ein französisches Essen, selbst erlebt ■ von Françoise Cactus

Silvester ist in Frankreich vollkommen unspektakulär, speziell auf dem Land. Dort werden weder Feuerwerke noch Raketen, noch Kracher angezündet, stattdessen wird in der Familie gespeist. In meiner Familie gab es immer Austern, Ente mit Orangen und einen Schokoladenkuchen, der wie ein Holzklotz aussah. Zwischen der Ente und dem Holzklotz küssten sich alle zerstreut und wiederholten dabei: „Gutes Jahr, gute Gesundheit ...“

Da ich Silvester verabscheute, behauptete ich, ich sei krank und müsse im Bett bleiben, doch wollte meine Mutter, die ihren ewigen Kittel gegen ein schickes Blumenkleid getauscht hatte, nichts davon hören. Unwillig folgte ich ihr. Ich hasste es, wenn es Gäste gab.

Wir nahmen das Geräusch eines Motors wahr. „Tante Marlene ist da!“, schrien alle. Schon stieg sie aus dem De Dion Bouton. Über der Pudeldauerwelle trug sie Columbus’ Karavelle als Hut. Tante Marlene hatte eigentlich diesen „eleganten, diskreten Pariser Schick“, aber bei Schmuck und Kopfschmuck hörte ihre Diskretion auf. Am liebsten trug sie ihre unzähligen teuren Ringe und Halsketten alle auf einmal. Ihr Mund war klein und verkniffen, ihre runden Augen hellblau.

Begleitet wurde Tante Marlene von ihrem kleinen Mann Onkel Harry, aber er ist kaum der Rede wert. Tante Marlene konnte ihn mit seinen Karottenhaaren nicht ausstehen, sie liebte nur sein Geld. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass er nachts auf dem Canapé schlief. In ihr Bett durfte er nur im Winter, um es vorzuheizen. Dann musste er wieder zurück aufs Canapé.

Während die Erwachsenen sich begrüßten, verschwand die schielende Rosie, meine Schwester. Nach vergeblichem Rufen verzichtete man auf ihre Gesellschaft und begab sich zu Tisch. Marlene bemerkte mitleidig, die Kleine würde in einer „Traumwelt“ leben, womit sie meinte, dass Rosie retardiert war. Sie hasste Kinder – ganz besonders Mädchen – und hatte eine sadistische Ader.

All die Meeresfrüchte und der Champagner stiegen meinem Vater in den Kopf. Er fing an, den Po meiner Mutter zu tätscheln. Ich hielt meine Hände unterm Tisch und machte Hungerstreik. „Zeig deine Fingernägel!“, befahl Tante Marlene. „Du wirst niemals einen Mann finden!“, drohte sie mit angewidertem Blick. Dann gab sie meiner Mutter den Ratschlag, meine angeknabberten Fingernägel mit extrascharfem Dijon-Senf zu bepinseln.

Onkel Harry versuchte, der Konversation eine neue Richtung zu geben. „Was willst du später werden?“, fragte er mich. „Sängerin.“ Onkel Harry äußerte, er fände diesen Beruf „sehr spannend“. Tante Marlene warf ihm einen angeekelten Blick zu. Pikiert spitzte sie den Mund, der so klein wurde wie ein Hühnerpo. Apropos Geflügel: Eins wurde auf den Tisch gestellt. Die Ente qualmte und war umgeben von Orangen. „Oooh! Aaah! Ist die schön!“, riefen alle begeistert. „Der Vogel ist tot“, dachte ich. „Wenn niemand was dagegen hat, nehm ich den Bürzel“, sagte Onkel Harry. „Und eine Keule!“

Pierre verlor die Fassung, weil er den Braten für seine gezähmte Ente Victor Hugo hielt. „Meine Ente! Victor Hugo! Victor Hugo! Seit gestern habe ich Victor Hugo nicht mehr gesehen ... ihr Schweine! Ihr herzlosen Scheißer!“brüllte er. „Was ist los mit ihm?“, wunderte sich mein Vater. Der pickelige Pierre rannte zur Bratente und schluchzte wie ein kleiner Junge. „Bitte Pierre! Ruiniere uns die Sauce nicht mit deinen Tränen!“, sagte meine Mutter.

Pierre rannte in den dunklen Garten hinaus. Ich musste gähnen. Durch die Fenster der Veranda sah ich die schielende Rosie Victor Hugo in ihren Armen tragen. Pierre umarmte seine Ente leidenschaftlich. So endete der gewaltige Aufstand. Bald hatte meine Mutter ihre Truppe wieder zusammengetrommelt und vergab Küsschen, während ich mir die Decke ansah. Sogar Victor Hugo bekam einen Kuss auf den Schnabel, es war nicht zum Aushalten. Ich nahm mir vor, an keinem einzigen Familienessen mehr teilzunehmen. Die Tortur nahm kein Ende. „Ach! Dieser Wein schmeckt mir so, als ob die heilige Maria mir in den Mund pinkeln würde“, sagte mein Vater. Meine Mutter lächelte geschmeichelt, als wäre sie die heilige Maria! Tante Marlene, die mit gespreizten Fingern aß, fand ein neues Gesprächsthema: das Buchprojekt meiner Mutter. Ich gähnte demonstrativ. Meine Mutter glaubte an den historischen Glanz ihres Kuhkaffs und behauptete sogar, es hätte hier einmal eine Kathedrale gegeben, die dann wie durch ein Wunder wieder verschwunden war. Mit dem Irrsinn quälte sie die Tischgesellschaft und merkte es nicht einmal.

„Tante Marlene, wie geht es deinem Steißbein?“, fragte mein Vater. „Was ist ein Steißbein?“, fragte die schielende Rosie. „Arschspitze!“ Das war das einzige Wort, das ich während des ganzen Silvesteressens von mir gab.

Françoise Cactus und Stereo Total spielen heute pünktlich um 18 Uhr in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz