Algerien muss seine Vielschichtigkeit als Reichtum anerkennen
: Eine friedliche Zeit steht bevor

Algeriens Islamische Armee des Heils (AIS) löst sich auf. Präsident Abdelasis Bouteflika gewährt den Kämpfern des bewaffneten Arms der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS) eine Amnestie. Die radikalen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) und deren Ableger sind endgültig isoliert. Die Armee wird ihnen – kurioserweise mit Unterstützung von AIS-Einheiten – ab Januar nachstellen. Damit ist ein erster und sicherlich der wichtigste Schritt Richtung Frieden getan. Aber die Amnestie allein reicht nicht aus, die tiefen Gräben in Algerien zu überwinden.

Das wird nach Jahren des Leidens eine schwierige Aufgabe. Über 120.000 Tote zählte Algerien allein in diesem Konflikt – wesentlich mehr als in dem anderen großen Krieg, dem, der zur Unabhängigkeit führte. Eine Politik, die verhindern will, dass die Gräben mit brutaler Regelmäßigkeit erneut aufgerissen werden und ihren Tribut fordern, muss für eine wirkliche nationale Aussöhnung sorgen. Dieser Prozess kann nur ein politischer sein. Es genügt nicht, Geheimabkommen zwischen Militärs zu schließen und die Waffenübergabe sowie die Wiedereingliederung der Kämpfer zu regeln. Algerien braucht das, was vor dem Konflikt versäumt wurde: eine breite gesellschaftliche Debatte über die Zukunft des Landes. An ihr müssen alle politischen Kräfte beteiligt sein. Neben der Lösung der konfliktfördernden sozialen Probleme muss es bei einer solchen Debatte um die vollständige Demokratisierung und die Identität des Landes gehen. Algerien braucht eine Öffnung. Um die zu erreichen, muss nicht nur der alte, korrupte Staatsapparat endgültig beseitigt werden. Es ist auch notwendig, mit den Mythen aufzuräumen, die am Dilemma der letzten Jahre schuld sind.

Algerien – und mit dem Land jeder einzelne seiner Bürger – ist eine einzigartige Mischung aus türkischer, arabischer, berberischer und französischer Kultur. Statt der seit der Unabhängigkeit immer wieder betriebenen Arabisierung und der damit verbundenen Einengung des kulturellen und politischen Horizontes braucht die algerische Gesellschaft eine Politik, die Vielschichtigkeit wahrt und als Reichtum begreift. Es gibt kein besseres Rezept als dieses, um das Land für die Zukunft vor verkürzten radikalen Weltanschauungen und ihren dramatischen Auswirkungen zu schützen. Reiner Wandler