Unter Castros Sternenhimmel

21. Filmfestival Havanna – argentinische Triumphe und imperialistische Kinderräuber. Das einheimische Kino dümpelt gefällig dahin oder feiert ein lustiges Kuba ■ Von Geri Krebs

Einiges war anders in diesem Jahr. Es gab weder Warteschlangen noch chaotische Prügelszenen vor den Kinos, in denen die Publikumsrenner liefen. Und das „Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films“ hat abgespeckt: Von 500 auf 300 Filme insgesamt, von 50 auf 38 im Wettbewerb, was das Ganze wohltuend überschaubar macht. Nach wie vor wimmelt es während der Festivalzeit in Havanna von Zusatzveranstaltungen, Seminaren, Ausstellungen, Theateraufführungen und Konzerten. Die Eröffnung mit einem Auftritt von Caetano Veloso und die Abschlussgala vom Buena Vista Social Club minus Ry Cooder setzten den spektakulären Rahmen.

Zusatzveranstaltungen der eher bizarren Art waren dann ab der zweiten Festivalwoche die allnachmittäglich durchgeführten „spontanen“ Massenmobilisierungen des „kämpfenden Volkes“, mit denen die kubanische Regierung ihrer Forderung nach Repatriierung des sechsjährigen Elián Nachdruck verleihen will. Der kleine Junge ist einer von drei Überlebenden einer Gruppe von14 Bootsflüchtlingen, die Ende November versucht hatten, in die USA zu gelangen. Seine Mutter ertrank bei diesem Fluchtversuch. Das Kind lebt seither bei Verwandten in Miami und wird von seinem in Kuba verbliebenen Vater zurückgefordert. Die Tasache, dass die US-Administration den Entscheid über den definitiven Verbleib von Elián einem Gericht in Miami überlassen will, wird nun von der kubanischen Regierung propagandistisch als „Entführung eines unschuldigen Kindes durch die Imperialisten“ dargestellt. Das tragische Schicksal des Jungen dient der Entfesselung von nationalistischen Massenmobilisierungen, wie es sie in Kuba seit 1980 nicht mehr gegeben hat. Das Festivalhotel Nacional liegt übrigens etwas erhöht und nur einen Steinwurf von der von Protestierenden umlagerten US-Interessenvertretung. Mit seinem Park mutierte es jeden Nachmittag zum Logenplatz für die Regisseure und Gäste. Politkino live.

Kuba war schon immer ein Land größter Gegensätze, das gehört auch zum Reiz dieses Festivals. Deshalb werden die jeweils neuesten Filme aus einheimischer Produktion mit besonderer Spannung und Neugier erwartet. Dieses Jahr enttäuschten allerdings die beiden kubanisch-spanischen Koproduktionen „Un paraíso bajo las estrellas“ von Gerardo Chijona und „Las profecías de Amanda“ von Pastor Vega. Nach dem künstlerischen Höhenflug des kubanischen Kinos mit Fernando Pérez' La vida es silbar“ („Das Leben, ein Pfeifen“, der in Deutschland am 20. Januar ins Kino kommt) im vergangenen Jahr musste man dieses Mal ernüchtert feststellen, dass es auch in Kuba Regisseure gibt, die den Weg des geringsten Widerstands gehen.

Pastor Vegas Film über die Wahrsagerin Amanda ist ein Stück hausbackenes Erzählkino, ohne inhaltliche oder stilistische Ecken und Kanten. Lediglich das Schauspiel von Daisy Granados (die 1968 in Tomás Gutiérrez Aleas Meisterwerk „Memorias del subdesarrollo“ debütiert hatte) in ihrer Rolle als Amanda reißt den Film ein wenig heraus. Gerardo Chijonas Musikkomödie aus Havannas weltberühmtem Cabaret „Tropicana“ übernimmt als Filmtitel gleich den Werbeslogan des Lokals: Ein Paradies unter den Sternen. Der Film zeigt ein Kuba, das weitgehend der Tourismuswerbung entspricht: Music, dance, funny and lucky people. Die Handlung entspricht so exakt den Hollywood-Schemen, dass das unvermeidliche Happy End nur noch wie ein Sahnehäubchen wirkt. Als ob das staatliche kubanische Filminstitut ICAIC zu harten Kritiken an seiner Förderpolitik den Wind aus den Segeln nehmen wollte, veranstaltete es während des Festivals erstmals eine Pressekonferenz, an der – gewissermaßen als Übersprunghandlung – ausschließlich und ausführlich Filmprojekte vorgestellt wurden, die beim nächstjährigen Festival laufen sollen. Juan Carlos Tabío, Daniel Díaz Torres und Orlando Rojas wollen ihre neuesten Werke in „Havanna 2000“ präsentieren.

Den stärksten Eindruck hinterließ in diesem Jahr eine Reihe von engagierten Filmen aus Argentinien, teilweise von Regisseuren, die noch kaum bekannt sind. Die internationale Jury gab ihnen denn auch fast sämtliche Hauptpreise. Den Spezialpreis erhielt „Mundo grúa“ („Welt der Kräne“), das Erstlingswerk des 28-jährigen Pablo Trapero, eine an italienischen Neorealismus erinnernde Low-Budget-Produktion über das unspektakuläre Schicksal eines arbeitslosen Kranführers im heutigen Argentinien. Ebenfalls prämiert wurde das wunderschöne Werk „Yepeto“ von Eduardo Calcagno. Der argentinische Starschauspieler Ulisses Dumont spielt darin einen alternden Literaturprofessor, der eine platonische Liebe zu einer jungen Schülerin und deren Freund beginnt und dabei feststellen muss, dass sein Leben nur noch Literatur ist. Schon lange gelang keinem Film mehr eine so stimmige Synthese von Kino, Literatur und Poesie.

Der Hauptpreis des Festivals ging schließlich an „Garaje Olimpo“ von Marco Bechis, ein Werk, das ungeheuer beklemmend und ohne Voyeurismus den Horror nachzeichnet, den eine junge Linksaktivistin in der „Garaje Olimpo“, einem Folterzentrum in der Zeit der Militärdiktatur, durchlebt, bevor sie von ihren Peinigern ermordet wird. Die Jury hat damit das erklärte Ziel des Regisseurs Marco Benchi übernommen: am Ende dieses Jahrhunderts dem Andenken an die Opfer eines Jahrhundertverbrechens in Lateinamerika ein filmisches Denkmal zu setzen.