Eine Schweizer Legende wird zerstört

■  Zöllner und Politiker haben im Zweiten Weltkrieg ohne Not Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland abgewiesen. Tausende Menschen hätten gerettet werden können. Doch rechte Schweizer wollen das nicht wahrhaben

Bern (dpa/AP) – Das Urteil ist vernichtend: Hartherzig und ohne Not hätten Zöllner und Politiker tausende von Juden und andere vom Tod bedrohte Menschen an den Schweizer Grenzen abgewiesen, heißt es in einem gestern in Bern vorgestellten offiziellen Bericht zur Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg. Die Autoren gehören zu einer unabhängigen Expertenkommission. „Eine am Gebot der Menschlichkeit orientierte Politik hätte viele tausende Flüchtlinge vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten bewahrt“, lautet ihre Schlussfolgerung.

Zentral für das Verständnis der Flüchtlingspolitik ist nach Darstellung der Kommission der Antisemitismus. Die Ablehnung der jüdischen Flüchtlinge sei durch eine weit verbreitete antisemitische Grundhaltung motiviert gewesen. Dieser sei aber im Gegensatz zu Deutschland nicht rassenbiologisch, sondern kulturell, sozial und politisch begründet gewesen und habe an die Formen christlicher Judenfeindschaft angeknüpft. Den Entscheidungsträgern wirft der 360-seitige Bericht vor, sie hätten das Schicksal der Flüchtlinge als ein untergeordnetes Problem betrachtet. „Obwohl sie auf Grund der internationalen Rolle der Schweiz einige Trümpfe in der Hand hielten, nutzten sie den engen, aber dennoch vorhandenen Handlungsspielraum kaum zur Verteidigung grundlegender menschlicher Werte.“

Rechte Kreise wollen sich mit dieser neuen Geschichtsschreibung nicht abfinden. Sie wehren sich gegen die Zerstörung des immer noch weit verbreiteten Mythos von der tapferen Schweiz, die einen deutschen Einmarsch nur durch ihre Wehrhaftigkeit und eine kluge Flüchtlingspolitik verhindern konnte.

Die Autoren des Berichts und auch Bundespräsidentin Ruth Dreifuss, die sich nach Veröffentlichung der Studie im Namen der Regierung bei den Opfern von damals entschuldigt hat, sehen sich massiver Kritik ausgesetzt. Ulrich Schlüer, Parlamentsabgeordneter der Schweizerischen Volkspartei (SVP), verstieg sich sogar zu dem Ausspruch, die Mitglieder der Historikerkommission solle man „wie Lausbuben behandeln: Mit einer gehörigen Tracht Prügel“.

Der SVP-Politiker Christoph Blocher, der bei den Bundesratswahlen am kommenden Mittwoch für einen Ministerposten kandidiert, macht die späte Vergangenheitsbewältigung der Schweiz zum Wahlkampfthema: Wäre er schon in der Regierung, so würde er den Bericht zur Schweizer Flüchtlingspolitik zurückweisen.

Wenn sich Bundespräsidentin Dreifuss bei den Betroffenen entschuldigen wolle, so könne sie dies gerne tun, aber nur in ihrem eigenen Namen, nicht im Namen der Regierung, konnte man vor der Veröffentlichung des Berichts in rechtskonservativen Kreisen hören. Eine merkwürdige Idee, ist doch Ruth Dreifuss selbst jüdischer Herkunft.

Ein Argument der SVP lautet: Wenn der Bundesrat offiziell die Verantwortung für die damalige Flüchtlingspolitik übernimmt, könnten jüdische Familien Schadenersatz-Forderungen stellen. Zwar hatte sich der Schweizer Bundespräsident Kaspar Villiger im Namen des Bundesrates schon 1995 bei den Flüchtlingen entschuldigt. Damals hielt er aber noch an der Version fest, dass „Konzessionen“ an Deutschland nötig gewesen seien. „Wie hätten wir anders überleben können?“, warb er um Verständnis.

Zwei Verfahren jüdischer Flüchtlinge, die damals abgewiesen wurden, laufen derzeit vor dem Bundesgericht in Lausanne. Joseph Spring und Charles Sonabend fordern beide je 100.000 Franken (rund 121.000 Mark) vom Schweizer Staat. Die Familie Sonabend wurde 1942 abgeschoben. Die Eltern starben später in Auschwitz. Spring war 1943 als 16-Jähriger zusammen mit zwei Cousins von Schweizer Grenzbeamten bei einem Fluchtversuch in die Schweiz aufgegriffen und einer deutschen Patrouille übergeben worden. Auch Springs Cousins wurden in Auschwitz ermordet. Er selbst überlebte das KZ.