Okkultes im Computer

Figuren des Dazwischen: Eine Tagung in Weimar verortete den Sekretär des letzten Jahrhunderts zum paradigmatischen Helden moderner Medientheorie. Doch erst wenn der Zwischenraum der Vermittlung unbesetzt bleibt, wird dessen Machtfülle deutlich  ■   Von Nils Röller

Für Normalnutzer sind die Strukturen der Computer so wenig transparent wie Prinzipien einer Behörde

Ich würde lieber nicht“ – mit diesem Satz verweigert der Schreiber Bartleby seinen Dienst in einer Anwaltskanzlei. In der gleichnamigen Erzählung von Hermann Melville kündigt Bartleby die vereinbarte Arbeitsteilung im Büro eines Anwalts auf und zeigt damit, wie ein Machtvakuum entsteht, wenn Vermittlungsarbeit nicht mehr geleistet wird.

Bartlebys Satz passt in die Welt der digitalen Büromaschinen. Gerade sie verweigern unvorhersehbar ihren Dienst, verlangen ohne einsichtigen Grund nach Neustart und Systemcheck. Computern und menschlichen Sekretären ist gemeinsam, dass sie mediale Positionen einnehmen – „medius“ im lateinischen Sinne von „mittel“ als das, was zwischen anderen liegt. In diesem Zwischenraum steckt eine Macht, die erst dann wahrgenommen wird, wenn der Platz, wie im Falle Bartlebys, nicht mehr in gewohnter Weise besetzt wird.

Wie kann man aber diese Figuren des Dazwischen fassen? Im Wien der Zwischenkriegszeit konnte man noch einfach ein „Gremium zur ernsthaften Untersuchung von Medien“ gründen und sich auf Geistererscheinungen und Parapsychologie beschränken, die im Übrigen auch Heroen der Computerkultur beschäftigt haben. Heute ist die Verengung des Worts „Medium“ auf Personen des Geisterverkehrs nicht mehr möglich, da mit Medien in erster Linie Kommunikationstechniken angesprochen werden, die neue Verständigungsmöglichkeiten behaupten und den Blick auf ältere Formen des Mitteilens verstellen. Einer spezifischen Form des Medialen widmeten sich Bernhard Siegert und Joseph Vogl, indem sie Anfang Dezember zu einem internationalen Symposium „Europa: Kultur der Sekretäre“ nach Weimar einluden.

Mit dem Wort „Sekretär“ wird eine gesellschaftliche Funktion benannt, die trotz aller technischen Innovation erstaunlich konstant geblieben ist und die die Grenze zwischen geheimem und öffentlichem Wissen markiert. So referierte die Historikerin Irina Scherbakowa aus Moskau über die Sondermappen des Generalsekretärs Stalin. Der Machthaber, der nicht erster Diener seines Staats sein wollte, sondern sich formal als Sekretär eines Herrschaftsapparates definierte, sei in erster Linie ein moderner Manager gewesen.

Scherbakowa zeigte eine so genannte „Sondermappe“ Stalins. Auf solchen roten Mappen war als Mahnung für alle Archivare zu lesen: „Ewig aufbewahren“. Und tatsächlich, noch heute füllen die roten Pappdeckel des Diktators ganze Archive. Wie alle Machthaber hatte Stalin selbst einen völlig leeren Schreibtisch, da er nicht selbst schrieb, sondern schreiben ließ. Stalin gründete seine Macht auf einem System von Dokumenten und wusste genau zu dosieren. So enthielt die Tagesmappe vom 6. August 1945 Informationen von unterschiedlichem Belang, wie zum Beispiel zur amerikanischen Atombombe, zur Geisteraustreibung in einem kleinem tatarischen Dorf und eine Liste von Ferienhäusern seiner Generäle.

Zu nur zehn Prozent der Akten haben Wissenschaftler bisher Zugang, aber schon diese Teilmenge belegt, wie in der sowjetischen Verwaltung über das Leben von Tausenden entschieden wurde. So ließ Stalin die Säuberungsaktion, bei der nach statistischen Prinzipien Menschen zum Tode verurteilt wurden, unterbrechen, weil die Aktenordnung unter der Flut der Todesurteile zusammenzubrechen drohte.

„Wir sind dazu geboren, aus Kafka Realität zu machen“, lautete ein Spottlied in der Sowjetunion, das die tragische Komik von Kafkas Intuitionen mit der bürokratischen Verwaltung des Terrors verknüpft.

Wolf Kittler aus Santa Barbara interpretierte die Behörde aus Kafkas „Schloß“ als problematisches Nachrichtenzentrum. Die Schreiber des Schlosses schreiben nach Diktaten, die sie eigentlich akustisch nicht richtig erfassen können, und übergeben sie nach nicht einsichtigen Prinzipien dem Boten Barnabas, der diese wiederum verzögert überbringt. Besteht nicht auch der Unterschied zwischen menschlichen Schreibkräften und elektronischen Büromaschinen in den nicht einsichtigen Übermittlungsverzögerungen? Für den Normalnutzer sind die technischen Strukturen der Computer ebenso wenig einsehbar wie die Prinzipien einer Behörde, dies ist ein Ergebnis der angewandten Arbeitswissenschaft.

Claus Pias verwies darauf, dass die Computerindustrie ihre Geräte vor der Unwissenheit der Maschinennutzer prinzipiell schützt, indem sie die zu Grunde liegende Technik in Gehäusen versteckt und zur oberflächlichen Orientierung auf den Monitoren Papierkörbe, Scheren und Blätter eines Büros simuliert.

Von der klassischen Arbeitsteilung zwischen denkendem Dichter und schreibendem Sekretär muss man nicht erst seit Erfindung des Personalcomputers Abschied nehmen. Goethe hatte seinen Eckermann, doch heutige Autoren müssen wie ihre mittelalterlichen Kollegen denken und selbst schreiben. Ihr Schreibtisch ist Produktions-, Verwaltungs- und Versendungsposten zugleich. Ob in dieser Zusammenlegung von Arbeitsschritten „subjektive Behörden“ mit Irrgängen, Verzweiflung und absurder Selbstzensur entstehen, ist eine Frage, die an Prousts Roman „Suche nach der verlorenen Zeit“ gestellt werden kann.

Ulrike Sprenger untersuchte das „imaginäre Sekretariat“ dieses Romans. Man kann mit Sprenger einzelne Personen als Angestellte dieses ästhetischen Unternehmens charakterisieren – zum Beispiel den Baron de Charlus, der korrekt Worte setzen kann, aber keinen Text zu Stande bekommt, oder die Haushälterin Françoise, die löchrig gewordene Manuskriptseiten begutachtet und stopfen soll. Doch die Sitze im Aufsichtsrat dieses Unternehmens wechseln. Einige sind den Lesern vorbehalten, die mangelhafte Stellen im erzeugten Produkt entdecken und durch ihre Vorstellung füllen, ohne dass der Generalsekretär Proust darüber noch entscheiden könnte. Die Ausschaltung von Fehlerquellen, die den Empfang der Botschaft verfremden, so Sprenger, muss als mediales Problem des Positivismus bezeichnet werden, auf das Proust und mit ihm andere Schriftsteller der Moderne reagierten.

Wolfgang Schäffners Untersuchung naturwissenschaftlicher Instrumente des 19. Jahrhunderts zeigt, dass Messapparaturen so mit Schreibinstrumenten gekoppelt wurden, dass Fehler durch menschliche Schreiber vermieden werden konnten. Somit stellt sich aber die erkenntnistheoretische Frage: Wer schreibt denn nun? Notieren die Messintrumente Daten aus der Natur, oder richten sie nur ihrem maschinellen Code entsprechend Daten her?

Der Anspruch, auf die Datenvermittlung durch menschliche Sekretäre zu verzichten, motivierte zunächst das wissenschaftliche Paradigma des Positivismus. Dessen Basis wurde am Beginn des 20. Jahrhunderts unerwartet erschüttert. Es waren gerade die Positivisten Schlick und Carnap, die sich für okkulte Phänomene interessierten – so als ahnten sie bereits, dass das Programm der Moderne metaphysische Überraschungen birgt, die dann einer ihrer eifrigen Zuhörer Kurt Gödel auch prompt entdeckte. Die Sekretäre der Natur wurden zu früh ausgeschaltet und damit naiv auch die medialen Bedingungen des Erkennens vernachlässigt.

Eine Reflexion über den Einfluss von Erkenntnismitteln auf die Erfassung des Gegenstands ist eine Frage der Medientheorie, die in der Figur des Sekretärs ihr Paradigma findet. Die Theorie der Grenze zwischen Verborgenem und Öffentlichem von Natur und Gesellschaft darf jedoch nicht den Generälen wie Stalin überlassen werden. Vorbildlich sind vielmehr Personen, die mediale Funktionen sichtbar machen – wie der Schreiber Bartleby, der erst einmal lieber nicht möchte, was andere für selbstverständlich halten.