■ Die russischen Militärs und Politiker werden zunehmend zynisch
: Russland zerstört seine Zukunft

Die Aufforderung an die Bevölkerung Grosnys, ihre Stadt bis zum nächsten Samstag zu verlassen, um nicht „vernichtet“ zu werden, wirkt außerhalb Russlands zynisch. Die Empörung im westlichen Publikum bringt sogar jene Politiker zu einer vorsichtigen Missbilligung, die – wie der neue Nato-Generalsekretär George Robertson – sonst Verständnis für die russischen Kriegsziele bekundeten. Dass westliche Regierungen durch ihre heimischen Öffentlichkeiten zu Sanktionen getrieben werden könnten, die sie eigentlich gar nicht wollen, hat wahrscheinlich den russischen Oberkommandierenden Kasanzew bewogen, das Ultimatum halb zu relativieren: Es gelte nur für Terroristen, nicht für Zivilisten.

Die russische Präsentation des Krieges ist damit zu ihrer bisherigen Generallinie zurückgekehrt: Die tschetschenische Zivilbevölkerung begrüßt jubelnd die russischen Truppen, weil die sie vom Joch der muslimischen Terroristen befreien. Die Soldaten kümmern sich fürsorglich um die Flüchtlinge, und die Geschosse ihrer Artillerie können zwischen Terroristen und Zivilisten unterscheiden.

Auch in seiner revidierten Fassung kann der Zynismus der russischen Regierung als Symptom gelesen werden. Mit Sicherheit sollte das Ultimatum nicht zynisch wirken: Die unschuldigen Bewohner werden ja auch sonst aufgefordert, das Haus vor jener Sprengung zu verlassen, die die Rattenplage beseitigen soll. Offenbar jedoch sind in Russland einige moralische Kategorien verrutscht. Die Medien liefern zum tschetschenischen Krieg nur noch trommelnde Propaganda. Im Unterschied zu sowjetischen Zeiten stößt die aber auf massenhafte Zustimmung.

Die so geschürte Hysterie gewinnt ein Eigengewicht und treibt auch jene Politiker und Medien vor sich her, die unter anderen Umständen bedächtiger wären. In dieser Atmosphäre können auch bei regierenden Politikern und erst recht beim Militärpersonal schon einmal die Normen verschwimmen, die sie bei öffentlichen Verlautbarungen sonst von öffentlichem Zynismus zurückhalten.

Hier Humanität einzufordern hieße, weiße Tauben zu predigen. Aber nicht einmal technisch abwägende Vernunft hat gegenwärtig eine Chance. Im dem Bemühen, Tschetschenien zu halten und die Pipeline zu sichern, ist Russland dabei, auch seine eigene Zukunft im Kaukasus zu zerstören. Erhard Stölting