■ Die Psychotherapie wird Patienten vorenthalten – zu Unrecht
: Medizin gegen den Zeitgeist

In seltener Einigkeit fahren Bundesgesundheitsministerin, Kassenärztliche Bundesvereinigung und Krankenkassenverbände die psychotherapeutische Versorgung der Bundesbürger gegen die Wand: Denn da weder die Kassenärzte bereit sind, ihre Honorarverteilungen zu Gunsten der ärztlichen und psychologischen Therapeuten zu ändern, noch das Ministerium das Budget aufstocken will, sind in vielen Bundesländern Stundensätze von 70 Mark und weniger die Regel. Auch die Krankenkassen weigern sich, mehr Geld für Psychotherapie zur Verfügung zu stellen. Um jedoch die Versorgung durch Psychotherapie sicherzustellen und den Konkurs von Psychotherapiepraxen zu verhindern, urteilte das Bundessozialgericht einmalig eindeutig im August, es sei ein Stundensatz von 145 Mark zu gewährleisten.

Nur: Unter der Domäne einer Ministerin, deren Partei sich stets und vehement für eine ausreichende psychotherapeutische Versorgung eingesetzt hat, wird sprechende Medizin auf breiter Front verhindert. Das Verhalten von Kassen, Ministerin und Kassenärztlicher Vereinigung hat massive wirtschaftliche Hintergründe: Schließlich wird mehr und dauerhafter von pharmazeutischer Industrie, anderen Arztgruppen und Krankenhäusern verdient, wenn Patienten die Psychotherapie vorenthalten wird.

Behandlungen an der Indikation vorbei sind jedoch oft fruchtlos und lassen die Kosten im Gesundheitswesens steigen – zumal man seit zwanzig Jahren weiß, dass jeder dritte Patient im Wartezimmer eines Hausarztes falsch sitzt und stattdessen richtig beim Psychotherapeuten wäre. Und ebenso lange ist bekannt, dass der Weg dorthin bis zu zehn Jahren dauert. Wer also Kosten im Gesundheitssektor einsparen will, hätte hier eine Gelegenheit. Längst jedoch steht der Ministerin das Wasser bis zum Hals, höher jedenfalls als die Ideale, derentwegen sie sich dereinst gegen die Verelendung psychisch Kranker einsetzte.

Demonstrationen von Psychotherapeuten sind mitnichten auf der Ebene der Zahnarzt-Selbstbedienungsideologie anzusiedeln. Wer als Selbstständiger 70 Mark umsetzt, kann davon weder Praxis noch Weiterbildung bezahlen und sollte lieber gleich zum Sozialamt gehen.

Psychotherapie ist eine Behandlung gegen den Zeitgeist: Sie braucht Zeit und widersetzt sich glatten Forderungen nach Allverfügbarkeit des globalisierten Arbeitsmenschen. Und daher eint sie offenbar ihre sonst so zerstrittenen Gegner. Micha Hilgers

Psychoanalytiker und Publizist in Aachen