„In einem katastrophalen Zustand“

■ Petra Meyer, Bonner Mitarbeiterin der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, über die Situation der Flüchtlinge aus Srebrenica

taz: Frau Meyer, was sind Ihre neusten Informationen aus dem Flüchtlingslager in Potočari?

Petra Meyer: Das größte Problem, der Wassermangel, ist zur Zeit etwas weniger drängend, da die Serben einige Wassertanks bereitgestellt haben. Es gibt aber kaum Lebensmittel, und auch die Medikamente gehen uns aus. Wir hatten in Srebrenica eigentlich ausreichend Arzneimittel, aber die Evakuierung mußte so schnell gehen, daß wir die Vorräte nicht mitnehmen konnten.

Gibt es für 30.000 Menschen überhaupt noch etwas zu essen?

Es gibt zur Zeit sehr wenig bis gar nichts. Ein Konvoi vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat zwar von den bosnischen Serben die Genehmigung bekommen, nach Srebrenica zu fahren. Dennoch wurde er von ihnen aufgehalten.

Wie viele Flüchtlinge sind inzwischen von den Serben aus Potočari auf bosnisch kontrolliertes Gebiet gebracht worden?

Das können wir nicht genau sagen – wir haben auch nur zwei Mitarbeiter, die sich um die Menschen kümmern, eine deutsche Krankenschwester und einen australischen Arzt. Die Lage ist vollkommen unübersichtlich.

Es heißt, die Menschen wurden in verschiedene Gruppen geteilt.

Die Serben haben drei Gruppen gebildet: Frauen, Kinder und Ältere kamen in die erste, Verwundete in die zweite, Männer in die dritte. Die Männer wurden weggeführt und verhört, einige werden auch gefangengehalten. Die Serben werfen ihnen vor, Kriegsverbrecher zu sein. Bei der Gruppenaufteilung kam es zu katastrophalen Szenen. Die Menschen waren natürlich völlig verängstigt, als die Serben das UN-Gelände stürmten und dabei ständig in die Luft schossen. Dann wurden die Familien getrennt. In all diesem Chaos wurden sieben Kinder geboren.

Dürfen UNO-Soldaten die Flüchtlinge auf dem Weg nach Tuzla begleiten?

Es hieß, bei der Vertreibung sei es zu Vergewaltigungen gekommen. Das können unsere Mitarbeiter nicht bestätigen. Wegen all diesen Gerüchten fordern wir, daß internationale Beobachter die Busse begleiten können.

Die Menschen sollen auf der Flucht aus Srebrenica bombardiert worden sein.

Am Montag und Dienstag wurde zunächst Srebrenica stundenlang beschossen. Die Evakuierung der Kranken nach Potočari war sehr schwierig, weil immer wieder Granaten in unmittelbarer Nähe einschlugen. Aber unseren Mitarbeitern gelang es, zusammen mit den einheimischen Ärzten und Helfern die Patienten „heil“ raus zu bringen.

Gibt es genaue Zahlen über Tote und Verwundete?

Wir haben 88 Verwundete evakuiert. Das sind natürlich längst nicht alle Menschen, die medizinischer Hilfe bedürfen. Die Flüchtlinge sind in einem katastrophalen physischen und psychischen Zustand. Wir versuchen, die Verwundeten nach Tuzla zu bringen, aber das geht sehr langsam. Personal und Medikamente könnten sofort nach Potočari gebracht werden, aber wir haben keine Genehmigung von den Serben.

Wie sieht es in Potočari aus? Können die Menschen dort in den Häusern unterkommen?

Es ist kein Dorf, sondern ein unbebautes Gelände. Wir haben Decken verteilt und Zelte aufgebaut. Interview: Sabine Herre

Spendenkonto „Ärzte ohne Grenzen“, Sparkasse Bonn, BLZ 380 500 00; Ktnr. 97 097