Perverser Kino-Terror

■ Bizarre, unheilbare Fremdwortkrankheit macht aus schönen Frauen wilde Tiere

Koprolalie. Entdeckt habe ich das wunderbare Wort in einem Buch von Oliver Sacks. Soweit ich mich erinnere, war eine ältere, recht christliche Dame mit dieser, wie Sacks es nannte, Störung gesegnet und begleitete fortan Gottesdienste wie Kirchenbazare mit fröhlichen Ausbrüchen obszöner Beschimpfungen. Bis heute träume ich davon, dass auch mir ein solcher Segen zuteil wird, und ich hoffe, dass dies geschehen wird, solange ich es noch mitkriege.

Meine Freundin Margarethe schläft immer zu den möglichsten und unmöglichsten Gelegenheiten ein. Narkolepsie heißt das dann, aber das wissen die Leut' nicht. Wenn sie also einschläft, am Tisch, im Restaurant oder auf der Reclam-Party, lachgrinsen die Leute und deuten stumm mit dem Kinn in ihre Richtung, so als wollten sie sagen, „haha, schau mal, die schläft“. Ich bin dann immer versucht zu sagen „das ist das, was River Phoenix in „My Private Idaho“ auch hatte, haha, nicht komisch“, und Margarethe ist, wenn sie vom angeregten Gemurmel der Meute aufwacht, unangenehm berührt. Wegen der Einschlaferei. Mit einer Narkolepsie kann man in ein Schlaflabor gehen, und dann diagnostizieren sie das und man kriegt, wenn man Glück hat, und sie einem offiziell bestätigen, dass man das, was River Phoenix in „My Private Idaho“ hat, auch hat, lustige Drogen verschrieben, die ansonsten unters Betäubungsmittelgesetz fallen. Abgesehen von den Medikamenten aber scheint mir die Narkolepsie wenig unterhaltsam. Auch besteht sicher die Gefahr, dass man seine Haltestelle in der Straßenbahn verschläft, dass man beim Autofahren plötzlich wegpennt oder dass man nie das Ende seines Lieblingsfilms erfährt.

Anders verhält es sich wohl mit der Koprolalie, und darum scheint sie mir erstrebenswerter zu sein. Lebt man sein Syndrom aus, erntet man wenig angerührte Blicke. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass man relativ bald eine auf die Fresse kriegt, denn sogar Pfarrer – Bergpredigt hin, Bergpredigt her – bleiben nicht lange friedlich, wenn man sie ein arschfickendes Furzkissengesicht schimpft. Nonnen verhauen einen mit schwarzen Stockschirmen, weil man sie im Vorbeigehen mit als unaussprechlich geltenden hasstiradischen Fäkalformulierungen bedacht hat. Im Kino läuft man Gefahr, vom aufgebrachten Mob gelyncht zu werden, wenn man zwanghaft und ekstatisch „ficken ficken ficken ficken ficken“ ruft, während Julia Roberts und Richard Gere sich gerade beinah fast küssen. Ältere Damen, die einem in der Straßenbahn ein Pullmoll angeboten haben, weil man so hustet, werden zu Furien, wenn man sie zum Dank mit aufreizenden Titeln wie „alte Bumsschachtel“ versieht.

Die Möglichkeiten erscheinen grenzenlos und unterhaltsam. Wenn man eine Koprolalie hätte, müsste man nie mehr ein Buch mit sich tragen. Man schriebe täglich seine eigenen Kurzgeschichten und hätte innerhalb einer Woche Stoff für einen Memoirenband. Andererseits könnte es natürlich sein, dass man mit so einer Koprolalie langfristig überdimensional heftig aneckt. Vielleicht wird man festgenommen und weggesperrt.

Womöglich muss man in ein beschissenes Sprachlabor, um eine verfickte zielgenaue Diagnose erstellt zu bekommen, und wenn sie dann rausfinden, dass man das hat, was die scheißdrecks-alte Dame in dem Buch von Oliver Sacks hatte, kriegt man womöglich das gottverdammte Fickmaul gestopft mit irgendwelchen beschissenen Hirnbremsern und verpissten Tranquilizern und kann dann vielleicht nicht einmal mehr den eigenen Namen schreiben. Was für eine kackverfickte Verschwendung.

Da zähme ich doch lieber meine gottverlassene Zunge und denk mir meinen Teil. Und wenn alte Damen in die Straßenbahn steigen und ich hab keine Lust, aufzustehen, kann ich ja immer noch einen narkoleptischen Anfall oder ein Nickerchen vortäuschen oder erbärmlich husten. Vielleicht hab ich ja Glück und es steckt mir jemand ein Amphetamin zu. Oder ein Pullmoll. Oder beides. Ira Strübel