Symbolisch abgefackelt

Die Berliner Volksbühne sucht Ibsen mit Feuersbrünsten heim. „Gespenster“, in der Regie von Sebastian Hartmann, dem anderen Neuen im Hause Castorf  ■   Von Eva Behrendt

Anfangs brennt nur ein Kandelaber, später die weite Welt. Anfangs schleppt Sophie Rois ihre auf High-Heels geschnürten Füße gleich körperfremden Gewichten auf die fast finstere Bühne, geklammert nur an einen hoch erhobenen Leuchter. Heiser, heiß und innig singt sie ein von Schumann vertontes Heine-Gedicht. Später wiederholt sich dieses Abendritual einer gebildeten Bürgerwitwe aus dem vergangenen Jahrhundert, bloß feuert diesmal der Sohnemann ihr samt Klavierbegleitung eine Kugel in die Brust. Auch als ihr Leib vom Blei durchsiebt und das Negligé blutgetränkt ist, lässt die röchelnde Dame nicht von ihrem tapferen Lied: „Ich grolle nicht“.

Am Ende brennt es immer noch – wenngleich nur noch in einer jener Tonnen, um die obdachlose Opfer wüster Katastrophen sich scharen. Selten dürfte Henrik Ibsens Drama „Gespenster“, in dem tatsächlich der Brand eines nicht versicherten Waisenhauses eine schicksalhafte Nebenrolle spielt, von solchen Feuersbrünsten heimgesucht worden sein wie in der Variante von Sebastian Hartmann, die am Donnerstagabend an der Volksbühne Premiere feierte. Neben Thomas Bischoff ist der 31-Jährige der andere Neue im Regieteam im Hause Castorf. Anders als Bischoff, dessen erratische Puristik auf der Volksbühne nachgerade exotisch wirkt, tritt Hartmann mit Verve in die Fußstapfen des Intendanten. Oder sind es nur Rois, Arnst und der aufgelöste Klassiker, die gelegenlich ein Déjà-vu durchs Gedächtnis huschen lassen?

Ibsens „Gespenster“ von 1881 verhandeln die Erbsünde ohne Gott und reflektieren den Schock der Moderne: Wenn alles Handeln kontingent ist, kann Wahrheit von der Lüge nicht erlösen. In der verschachtelten Enge des Bühnenbildes, dessen Decke Peter Schubert mit Blöcken silbriger Fjorde beklemmend tief gehängt hat, beginnt jedoch ein kaltes Kammerspiel, das von den subtilen moralischen Demontagen und nadelfein gestichelten Charakteren des Norwegers nichts wissen will.

Die geometrische Landschaft planiert alle Figuren in eine Riege persönlichkeitsgespaltener Perverslinge. Scharf und schneidend komisch wird aneinander vorbeigeredet, wenn es sein muss, auch Norwegisch. Die Hauptmannswitwe Alving (Sophie Rois), strauchelnde Hüterin peinlicher Familiengeheimnisse, ringt mit der Fleisch gewordenen Doppelmoral des Pastors (Hendrik Arnst); ihr heimgekehrter Sohn Osvald (Guido Lambrecht), der sich in dirty Paris just die Syphilis einfing, beweist wie sein Vater selig einen Hang fürs Küchenpersonal. Dass er nicht nur das Dienstmädchen Regine (Cordelia Wege), sondern damit auch seine Halbschwester begehrt, weiß er noch nicht. Wie vom Himmel gefallen steht ab und an still ein greisenhaftes Kind im Raum – verstörende Geister derer, die sich vom Esstisch aus im nostalgischen Familienfilm bestaunen. Anspielungsreich stiert dort im Jedermanns-Kostüm Frank Castorf als Papa Alving in die Super-8-Kamera.

Die lustig funkelnde Akuratesse des Auftaktes bewahrt sich die Aufführung ebenso wenig, wie die explosive Spielfreude sämtlicher Schauspieler ihren Ausgang retten kann. Vor lauter wirbelnden Einfällen und welterläuternden Interpretationsideen landen sowohl Frau Alvings Lebenslüge als auch die spielerische Sinnverweigerung in der Sackgasse. Stattdessen wird das Drama mit apokalyptischem Pathos, Trockennebel und anderen Thesen aufgepumpt. „Ich fühle nichts“, behauptet Amokläufer Osvald brüllend an die 50-mal, und weil er dabei hektisch in die Luft kopuliert, glaubt man ihm aufs Wort. Die kindlichen Wiedergänger fackeln symbolisch ein Waisenhäuschen ab, bestimmt und eigentlich ein Asylantenheim. Nach einer Stunde Showdown hat Hartmann Selbst- und Muttermorde, Gewaltorgien, Lebensangst, Sexsucht und wohlstandsverdrossene Langeweile in keuchenden Bildern aufgelistet. Bar jeder Analyse, aber vollständig.