Madinas Schicksal: Von Grosny nach Berlin

■ Meine Heimat ist zerstört, in Russland will man mich nicht, und hier kann ich auch nicht bleiben“

Berlin (taz) – Nein, Hass gegenüber den Russen empfinde sie nicht, sagt Madina Salajieva. Zum zweiten Mal ist die 25-jährige Tschetschenin Zeugin eines wahnsinnigen Krieges gegen ihr Land. Nur die Perspektive hat sich geändert. Heute beobachtet die Germanistik-Studentin die Ereignisse vom mehrere tausend Kilometer entfernten, sicheren Berlin aus. Zu Beginn des ersten Krieges, der 1994 begann, lebte sie in Grosny, wo sie auch aufgewachsen ist. Vom Balkon der Wohnung aus beobachtete Madina damals, wie russische Kampfjets den Flughafen bombardierten. „Lange war davon die Rede gewesen, dass die Russen kommen würden. Doch dass sie uns wirklich beschießen würden, hätte ich mir niemals vorstellen können“, sagt Madina.

Mit ihrer Mutter und Schwester floh Madina Salajieva in das Dorf Schatoi, das zwei Autostunden von Grosny entfernt an der Grenze zu Georgien liegt. Dort hatte die Familie ein kleines Haus. Der Vater blieb in Grosny. In Schatoi lebten sie wochenlang ohne Strom und Wasser, ständig in Todesangst. „Jeden Tag brachten die Menschen Leichen. Nach der Beerdigung rannten immer gleich alle nach Hause, aus Furcht vor neuen Angriffen“, erzählt Madina. Als es auch in Schatoi zu gefährlich wurde, flohen die drei Frauen ins benachbarte Dagestan, in die Hauptstadt Machatschkala.

Monatelang hörten sie nichts vom Vater. Dann tauchte er plötzlich auf. „Da kam ein anderer Mensch zurück. Seine schwarzen Haare waren grau geworden. Es seien schreckliche Dinge passiert, aber die könne er niemandem erzählen. Manchmal sah ich ihn weinen, ganz leise und still. In Tschetschenien zeigt ein Mann seine Trauer nicht“, sagt Madina.

Nach sechs Monaten in Dagestan kehrte die Familie nach Tschetschenien zurück. „In Grosny kenne ich jede Straße, bis dahin hatte ich ja nichts anderes gesehen. Jetzt war alles zerstört. Ich stand da und musste weinen. Da kam ein kleines Mädchen. Sie fragte: Warum weinst du? Ist dein Vater gestorben? Ist dein Bruder gefallen? Ist dein Haus zerstört? Ich schüttelte den Kopf. Da fragte sie: Warum weinst du dann?“

Kurz darauf, im Herbst 1995, reiste Madina mit einem Stipendium zum Studium nach Leipzig. Knapp ein Jahr später fuhr sie wieder nach Tschetschenien, mit Angst. „Ich wusste nicht, was mich erwartete und wer jetzt nicht mehr dasein würde.“ In Grosny erfuhr Madina vom Tod ihres Vaters. Da war er schon mehrere Monate tot, gestorben an einem Gehirnschlag. Sie habe sich auf ihre Rückkehr freuen sollen, begründete ihre Mutter das Zurückhalten der Nachricht. Und dann sagte sie: „Du kannst glücklich sein, für dich hat dein Vater acht Monate länger gelebt als für uns. Und wir haben ihn anständig begraben können.“ Jemanden würdevoll zu beerdigen, das sei für die Tschetschenen ein großes Glück, fügt Madina hinzu.

Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland im Herbst 1996 zog Madina von Leipzig nach Berlin. Hier studiert sie Germanistik und möchte später auch in Deutschland promovieren. Ihr Spezialthema ist ein Vergleich der deutschen und tschetschenischen Mentalität anhand von Sprichwörtern. Nebenbei arbeitet sie mit einem Kollegen am ersten deutsch-tschetschenischen Wörterbuch. Es soll 5.000 Stichwörter enthalten und im nächsten Jahr fertig sein.

Dass jetzt in Tschetschenien wieder Krieg herrscht, habe sie anfangs nicht glauben können. „Aber das ist unsere Geschichte. Alle fünfzig Jahre wird versucht, das tschetschenische Volk zu vernichten“, sagt Madina.

Ihre Mutter ist Ende September nach Inguschetien und von da nach Moskau zu Madinas älterer Schwester geflüchtet, die dort an ihrer Dissertation arbeitet. Doch in Moskau kann sie nicht bleiben. Als Tschetschenin wird ihr eine Aufenthaltsgenehmigung in der russischen Hauptstadt verweigert. Jetzt versucht Madina, ihre Mutter nach Deutschland zu holen. Ein erster Antrag wurde von der deutschen Botschaft abgelehnt, zumindest aber eine erneute Prüfung „aus humanitären Gründen“ zugesagt. Doch nicht nur um ihre Mutter macht sich Madina Sorgen. „Was soll aus mir werden, wenn meine Ausbildung beendet ist? Wohin gehöre ich? Meine Heimat ist zerstört, in Russland will man mich nicht, und hier in Deutschland werde ich auch nicht bleiben können“, sagt Madina.

Ihre Schwester, die wie andere Tschetschenen auch ständig von der Miliz schikaniert wird, habe ihr kürzlich gesagt: „Wir können nichts dagegen tun. Das ist eben unser Schicksal.“

Barbara Oertel