Plötzlich in jenem Sommer

Kitano goes polaroid. Die Yakuza haben Ferien, und die Violent Cops sind nicht im Dienst. In seinem Roadmovie „Kikujiro“ träumt der japanische Regisseur die Kindheit als unbeschwerte Pop-Fantasie  ■   Von Katja Nicodemus

In den fernen Zeiten, als es „Wetten dass ...?“, Champions League und Schulsport noch nicht gab, wurde das Spiel gespielt, um aus der Zeit zu fallen – als glücklicher Ausnahmezustand, Zeitvertreib, Selbstzweck. Zumindest die öffentlichen Organisationsformen des Spiels sind heute nur infantilisierte Spiegelbilder einer betonhart stratifikatorischen Daseinsform, deren Triebfedern irgendwo zwischen Ehrgeiz, Schadenfreude und Sozialneid liegen. Was brutale Video- und Computerspiele mit ihrer elementaren Triebbefriedigung wiederum sympathisch macht, da sie zumindest aus dieser Ökonomie heraustreten und auf ihre Weise Auszeit sind, Ballern um des Ballerns willen.

Das reine Spiel kann Zeitvertreib im wahrsten und auch mystischen Sinne sein, weil es wenigstens für einen Augenblick vertreibt, was chronologisches Bewusstsein nun mal mit sich bringt: das Nahen des Todes und die Angst davor. In den Filmen des japanischen Regisseurs Takeshi Kitano wird das Spiel zur zeitlosen Insel, zu einem latent euphorischen Geisteszustand vor und nach der Bedrohung. Etwa so wie man damals den ersten Tag der großen Ferien erlebte, die als herrlich unendliche Fläche vor einem lagen und die genau deshalb ewig schienen, weil man doch um ihre Begrenztheit wusste. Das Wissen um die Endlichkeit des Spiels und seine gleichzeitige hingebungsvolle Ausübung verleihen Kitanos Filmen ihren rituellen Charakter. Wenn der hyperbrutale Bulle in Kitanos „Violent Cop“ vom Dienst suspendiert wird, schaut er sich erst mal eine Chagall-Ausstellung an und geht dann träumerisch zum Baseball.

Umgekehrt wird auch der Tod spielerisch außer Kraft gesetzt, und zwar mit Vorliebe von denen, deren Metier er ist. In „Sonatine“ taucht eine Yakuza-Truppe für mehrere Wochen in einem Strandhäuschen unter. Hartgesottene Killer, die eben noch die konkurrierende Gang durchlöchert haben, tragen in der türkisfarbenen Pazifikidylle plötzlich peppige Hawaiihemden und übertreffen sich im Erfinden immer neuer karnevalesker Spiele: Papierfigürchen-Falten, Fallgruben-Bauen, Feuerwerksgefechte, Travestie, Tanz, Sumo-Ringen am Strand. In „Hana-Bi“ installieren Karten, Feuerwerk und Tangram, mit denen der Polizist seine todkranke Frau ablenkt, eine zerbrechliche Heiterkeit, die sich sogar gegen das selbstmörderische Ende behauptet. In „Jugatsu“ spielt ein Killer Indianerhäuptling, mit tropischen Pflanzen als Kopfschmuck, die später zur Tarnung eines Maschinengewehrs dienen.

Das Spiel als angstfreier, schwereloser Raum hat bei Kitano immer auch etwas Utopisches als Befreiung, Schwebezustand, in dem die symbolische Ordnung vorübergehend suspendiert wird – seien es Yakuza-Gesetze, tradierte Killerbilder oder das unabwendbare Verschwinden des Körpers. Dabei hat er selbst immer die Fäden in der Hand, ein Spielleiter und Schiedsrichter, der die Baseball- und Tangramregeln genauso bestimmt wie den Termin des Todes, auch des eigenen.

In „Kikujiro“ ist Kitano wieder Zeremonienmeister, und wie in „Hana-Bi“ spielt er das Spiel wieder für einen anderen. Diesmal dauern die ewigen Ferien sogar den ganzen Film lang. Echte Ferien, denn der kleine Junge aus downtown Tokyo steht plötzlich vor der Leere eines halben Sommers, die auch die Leere eines riesigen Sportplatzes ist. Verloren kickt er den Ball in eine gigantische Totale. Bei der Oma leben und nicht in Urlaub fahren können, ist nicht lustig, deshalb macht sich der Kleine auf die Suche nach seiner Mutter, die angeblich in einer anderen Stadt hart für seinen Unterhalt schuftet. Eine geistesgegenwärtige Bekannte schickt ihm einen (arbeitslosen?) Yakuza, Tagedieb und Hallodri mit auf den Weg. Die Route führt von einem Wettbüro in eine luxuriöse Ferienanlage und per Anhalter zur Mutter, die allerdings längst wieder Mann und Kind hat.

Kitano selbst spielt den Begleiter, diese Mischung aus Haudegen und Clown, wie eine Stummfilmfigur, überdeutlich in den Reaktionen, redundant in den Gesten – eine Zirkusgestalt im Freizeit-Outfit mit bequemen Schlappen und einem Hemd, das nach jeder Eskapade augenblicklich wieder blütenrein erstrahlt. Verschmitzter Zauberer und wandelndes Chaplin-Zitat, Retter und Scharlatan, der, wie der ganze Film, hemmungslose Selbststilisierung zelebriert. Mit lebenden Polaroidfotos, grellen Pop-Art-Kreationen, die den einzelnen Stationen als Kapitelüberschriften dienen („Der böse Mann“, „Omas Freunde“).

Mit eingeblendeten Animationsschnipseln und lakonischen Slapstick-Szenen, die ihr Inszeniertsein permanent ausstellen, und mit einem säuselnden Soundtrack, der den Film endgültig zum selbstreferenziellen Märchen macht, das die eigenen Mittel scheinbar geheimnislos preisgibt.

Aber Spielleiter bleibt Spielleiter. Tatsächlich hat Kitano die vermeintlich naive Form genauso unter Kontrolle wie die tolpatschigen Ballversuche des Beschützers, der sich an anderer Stelle als gewandter Jongleur entpuppt. In der zentralen Spielszene des Films gibt er sich sogar als Schöpfer, der Menschen in Kraken und Fische verwandelt, damit der traurige Bengel was zum Angeln hat. Ob Skulpturenwettlauf, Lianeschwingen oder die Landung eines silbrigen Außerirdischen – stets geht es um Theater, um den schönen Schein von Glück und kindlicher Unschuld, über deren Verschwundensein sich der Film nicht die geringsten Illusionen macht.

Am Ende führt die Reise an einem Altersheim vorbei. Der Tagedieb besucht seine alte Mutter, doch er wird sie nur von weitem betrachten und kein einziges Wort mit ihr reden. Vielleicht hat der Spielleiter das Spiel vom unbeschwerten Kindsein auch für sich selbst inszeniert. Vielleicht repräsentieren Kikujiro und sein Schützling Masao sogar verschiedene Lebensalter ein und der selben Person. Indem „Kikujiro“ die Erzeugung des Scheins fortwährend transparent macht, die eigene Naivität als Konstruktion entlarvt, wird der Film selbst zum offenen Spiel. Wenn man die klar zur Schau getragenen Regeln akzeptiert, kann man sich Kitanos bunter, sehnsüchtiger Popfantasie überlassen, noch einmal in die Ferien fahren oder die Welt mit den Augen einer Libelle betrachten. Die, die's nicht tun, waren vermutlich gut im Schulsport. „Kikujiro“; Regie: Takeshi Kitano. Mit Beat Takeshi, Yusuke Sekiguchi; J 1999; 121 Min.