Der harte Beat der Hochkultur

■ Ein Symposium zur „Deutschen Literatur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“

Das gute alte Listen-Spiel. Nick Hornby würde es gefallen: „Wem würden Sie denn den Literatur-Nobelpreis geben?“ fragt Moderator Jochen Hieber das Podium. Also schreiben ein Professor, eine Kritikerin, ein Schriftsteller und ein Bundestagsabgeordneter schnell ein paar Namen auf: „maximal drei“, „deutschsprachig“. Herr Hieber, FAZ-Feuilleton-Redakteur, macht natürlich auch mit.

Fünfmal Kafka, dreimal Musil, zweimal Brecht. Dann wird es kleinteilig. Der Bundestagsabgeordnete stammt aus Sachsen und will unbedingt Reiner Kunze dabeihaben, Herr Hieber findet Dürrenmatt gut, und der Literaturprofessor weiß, wie man Punkte macht: „Else Lasker-Schüler“, sagt er. Die einzige Frau auf den Jungs-Listen. Heftiger Applaus. „Das literarische Jahrhundert – Versuch einer Bilanz“: Die lustige Podiumsdiskussion stand am Schluss eines durchaus ernst gemeinten Großkampftages. „Deutsche Literatur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“ hieß das Symposion, das die Konrad-Adenauer-Stiftung ausgerichtet hatte. Nun sind die Millennium-Themen eigentlich eher Gentechnik und Informationsgesellschaft, Science statt Fiction: Literatur als Zukunftsfrage, das ist Luxus.

Und eine Chance. Der Münchner Literaturwissenschaftler Wolfgang Frühwald – der mit dem Else-Lasker-Schüler-Votum – nutzte sie und verabschiedete in seinem Eröffnungsvortrag erst einmal die Weltuntergangsliteratur der 80er-Jahre: die düsteren, apokalyptischen Romane, die damals von Christa Wolf, Wolfgang Hildesheimer oder auch Umberto Eco geschrieben wurden. Diese „Kulturantithesen“ seien inzwischen von der Wissenschaft überholt worden, das Projekt der „Optimierung des Menschen“ (Stephen Hawking) erfolgreich auf dem Wege und die großen Erzählungen der 90er-Jahre seien keine Katastrophenszenarien, sondern Rettungsgeschichten.

Das ist spannend, darüber hätte man am liebsten den ganzen Tag nachgedacht. Frühwald führte Filme an, um seine Rettungsthese zu belegen: „Titanic“, in dem eine Überlebende vom Heil der großen Liebe erzählt, oder „Das Leben ist schön“, in dem das rettende Lachen das unvorstellbar Grausame des KZ vorstellbar macht.

Gerne hätte man dem Professor zum Beispiel Rainald Goetz' Erlösungstagebuch „Rave“ zu lesen gegeben oder Andreas Neumeisters Pop-Roman „Gut laut“ – Bücher, in denen der DJ zum Menschenretter wird. Auch Frühwalds Behauptung, dass am Ende des 20. Jahrhunderts angesichts des allumfassenden Wissenschaftsmaterialismus die „Gottesfrage wieder an die Tür klopft“, hätte die Popliteratur mitgemacht: Gott legt Platten auf, auf das Paradies warten heißt auf den Bass warten . . .

Stopp: Wir sind immer noch bei der Adenauer-Stiftung, die Vortragenden und die etwa 200 geladenen Gäste im Publikum sind zum größten Teil Germanisten der älteren Jahrgänge. Über Literatur wird also nur auf Nobelpreis-Niveau geredet: über Thomas Mann, Günter Grass oder Thomas Bernhard. Auch okay. Irgendwann ist man drin in diesem Beat und kann sich am gut gelaunten Ernst freuen, mit dem unermüdlich Kulturgüter hin- und hergeschoben werden.

Im Haus der Konrad-Adenauer-Stiftung erzählt das Bildungsbürgertum sich noch einmal seine eigenen Rettungsgeschichten: Harald Weinrich spricht über „Erinnern und Vergessen in der Literatur des 20. Jahrhunderts“, Helmut Kiesel über das „mobilgemachte Jahrhundert“ zwischen Futurismus und Vietnamkongress und Klaus Manger über Celan. Das Publikum zitiert Hölderlin, und zwischendurch liest Günter de Bruyn. Nett. Wie so eine Tagung im Willy-Brandt-Haus aussehen würde, möchte man sich gar nicht vorstellen. Wählt die CDU!

Allerdings war auch Dagmar Schipanski eingeladen. Sie musste sozusagen die Partei vertreten. Die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Thüringen und gescheiterte Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten sprach über „Literatur und Politik“. Das war langweilig, und ihren Schlusssatz hätte man beinah überhört: „Politiker und Schriftsteller finden sich in der Kommunikationsgesellschaft ihrer Macht entzaubert“, sprach die Ministerin, die sich anscheinend für den Millennium-Sound verantwortlich fühlte: „Sie werden Dienstleister am Gemeinwohl.“ So hört sich das an, wenn die CDU auf Zukunft macht. Gar nicht nett. Da kann man ja gleich noch mal Gerhard Schröder wählen. Kolja Mensing