Auf dem dritten Weg

Deutsch-chinesische Grenzgänge: Der Maler Shu Chuanxi verschmilzt im Museum für Hamburgische Geschichte die Kulturen  ■ Von Hajo Schiff

Eine öde Winterstraße in Leipzig oder eine herbstliche Abendstimmung in bräunlichen Öltönen auf Karton sind nicht unbedingt das, was von einer Ausstellung chinesischer Malerei zu erwarten ist. Doch gerade solche Irritationen sind ein guter Einstieg, um ein Bild von der Vielgestaltigkeit der Kunst in China zwischen Tradition und Moderne zu bekommen. Unter dem Sinnbild des auf vier Rollbilder raumfüllend gepinselten Lebensbaumes wird mit Shu Chuanxi im Museum für Hamburgische Geschichte ein Meister ausgestellt, in dessen 67-jähriger Biografie sich der nicht gerade einfache Wechsel der künstlerischen und politischen Welten spiegelt. So erscheint es vor den Kalligraphien von uralten Gedichten samt ge-tuschtem „Bambus im Wind“ aus den 90er Jahren als geradezu absurd, dass der Künstler in China vor drei Jahrzehnten als „deutscher Maler“ abgewertet wurde. Aber nicht nur China hat sich gewaltig verändert: Shu Chuanxi hat sechs Jahre in jenem deutschen Staat studiert, den es seit 1990 nicht mehr gibt.

In der alten Kaiserstadt Nanjing geboren, in den Kriegswirren aufgewachsen und in der Revolution geschult, wird der Enkel eines bekannten traditionellen Vogel- und Blumenmalers im damals gültigen sowjet-realistischen Stil so perfekt, dass er 1954 zur Belohnung mit einem Staatsstipendium nach Leipzig geschickt wird. Dort zeichnet er LPG-Aktivisten und macht Illustrationen in Zille-Manier. Aber die offizielle DDR-Kunst der Zeit legt durchaus Wert auf das künstlerische Erbe. So lernt Shu Chuanxi diejenigen europäischen Kunstleistungen kennen, die hinter der Oberfläche des sowjetischen Propagandaexports nach China stehen. Und so auf die Tradition gestoßen, wendet er sich zugleich auch wieder den Wurzeln der eigenen Kultur zu: ein Chinese, der erst in der DDR die Kultur des alten China studiert.

Die mithin erreichte doppelte Befähigung macht seine Position nach der Rückkehr nach China nicht gerade leichter. Zwar erhält er gleich eine Professur in Hangzhou, gilt aber nun als mit verdächtig fremden Ideen infiziert. 1966 erklärt die Kulturrevolution die Akademie zum Hort der Konterrevolution und verfügt die gänzliche Schließung. Die roten Garden setzen Maos richtige Theorien in bis heute ungesühnten mörderischen Terror um. Der Akademiedirektor wird zu Tode gequält, Shu Chuanxi erhält für zehn Jahre Malverbot. Erst mit der neuen Öffnung unter Deng Xiaoping wird Shu wieder Hochschullehrer, kann international ausstellen und kommt 1989 anlässlich einer Gastprofessur nach Ham- burg – just in dem Jahr, da sich auch Deutschland zu verändern beginnt.

Die Kenntnis einer solchen Biografie ist nicht ganz unwichtig, um die Verschiedenartigkeit der gezeigten Bilder von der Kohlezeichnung des Stahlarbeiters zur ge-tuschten Winterkirsche bei Mondschein zu begreifen. Dennoch bleibt es grundsätzlich sehr schwierig, chinesische Kunst zu verstehen, ohne die Schrift lesen zu können. Denn diese über Jahrtausende entwickelten Zeichen bestimmen mehr als alles andere die Kultur im anderthalb Milliarden Menschen umfassenden Reich der Mitte. Was wir Europäer als eine Zeichnung mit Schrift sehen, ist in Wirklichkeit eher eine mit Bild kommentierte, individuelle Stimmungen ausdrückende Gedichtparaphrase, eine Aneignung von Formulierungen aus der mehr als tausend Jahre vergangenen Tang- oder Song-Zeit. Und die Lesbarkeit der Welt ist stets ein zentrales Thema aller chinesischen Kunst.

Kein Wunder, dass sich Shu in seinen jüngsten Arbeiten mit steinzeitlichen Einkratzungen, verwischten Spuren und der reduzierten Materialsprache des Katalanen Tapies befasst. Eher malerisch als zeichnerisch umgesetzt, scheint sich eine universal lesbare Sprache anzudeuten, vielleicht ein neuer, dritter Weg, in dem asiatisches und europäisches Kunstverständnis verschmelzen.

„Der Lebensbaum – Shu Chuanxi und die Erneuerung der chinesischen Malerei“, Museum für Hamburgische Geschichte, bis 9. Januar 2000, Katalog 39 Mark