Das alte Scheiße-schwimmt-oben-Prinzip

Cher in Berlin: Blitze zucken über der verdunkelten Bühne, auf den Videoleinwänden rafft ein Flickerfilm das Leben zur Erfolgsstory. Die Sechziger, die Siebziger, die Achtziger – alles da. Im Spätneunziger-Relaunch ist jetzt Disco der Sound der Stunde  ■   Von Thomas Groß

Zu den vielen von Cher über Cher verbreiteten Anekdoten gehört, dass sie zu Anfang ihrer Karriere, als sie noch Background bei Phil Spector sang, immer fünf Schritte hinter den anderen Girls stehen musste. Nur so kam es in etwa hin mit der Sound-Balance. Wer von unten nach oben will, lernt eben früh, sich durch Lautstärke Gehör zu verschaffen.

35 Jahre später muss eigentlich nichts mehr bewiesen werden. Und doch wiederholt Chers Show den Aufstieg aus der Namenlosigkeit, der auch live von ihrer durchdringenden Stimme angekündigt wird. Blitze zucken über der verdunkelten, im Stil eines Disney-Spukschlosses eingerichteten Bühne, auf der der Star noch einmal geboren wird, hoch gepumpt von unsichtbaren Hydrauliken, während auf Videoleinwänden einer dieser Flickerfilme läuft, die das Leben zur Erfolgsstory raffen. Die Sechziger, die Siebziger, die Achtziger – alles da. Seit fast einem Jahr ist ihr jüngstes Album ununterbrochen in den Charts, die dritte Single gerade erfolgreich in die Rotation geschossen, Cherylin LaPiere-Sarkesian aber, Tochter einer erfolglosen Hollywood-Schauspielerin und eines armenischen Einwanderersohns, steht da oben und singt „I Still Haven't Found What I'm Looking For“.

Für den von U 2 ausgeliehenen Eröffnungssong hat sie die Erscheinung einer überdimensionierten Indianerin gewählt, mit Fellstiefeln und very big hair. Ohne jeden Zweifel sieht sie klasse aus, nicht nur für ihre 54 Jahre. Tänzer umzingeln sie bewundernd, während sie die Bühne bestampft: Blondinen ausnahmsweise einmal nicht bevorzugt. Aber es war ein langer Weg, denn nur selten werden aus Aschenputteln leuchtende Größen im Showgeschäft, und bei aller wohlperformten Überlegenheit ist etwas Unerlöstes um diese Figur. Das verstehen sofort alle im Berliner Velodrom, diesem gewaltsam ins Gesamtdeutsche hoch konstruierten Tempel alter DDR-Körperertüchtigungskultur. Cher kommt als Vertreterin harter Body-Arbeit und unterdrückter Ethnien zugleich. Sie trägt das Stigma offen und wandelt es in Stärke.

Disco ist dazu der Sound der Stunde. Für ihren Spätneunziger-Relaunch hat Cher da angeknüpft, wo sie in den Siebzigern, als es kurzfristig nicht gut aussah für sie, den Faden verlor. Jetzt werden wieder die Fäuste auf der Tanzfläche gereckt, und Cherylin schaut alle drei Songs mit einer neuen, noch glamouröseren, zugleich unfassbar cheapen Travestie vorbei. „Strong enough“, „Believe“, „All Or Nothing“, „The Power“ – die Titel sind immer zugleich die entscheidenden Fantasy Words, die die Botschaft enthalten, der Rest ist zu vernachlässigende Textmasse, von Lohnschreibern erfunden, um die legendären Oktavbässe auch in den Höhen zu stützen, während die Starproduzenten – unter anderen Junior Vasquez und Todd Terry – verteilt auf neun Studios in fünf Ländern ihre Finger zu zügeln hatten, um den eigentlichen, den Mainstreamjob zu liefern.

Ob Cher als fanatische Heterosexuelle überhaupt ahnt, dass sie von den Errungenschaften der Schwulenkultur überlebt? Das ist schon bald nicht mehr die Frage, sie übersetzt qua Präsenz und Stimme alles in ein allgemeingültiges Vorstadt-Survival-Prinzip. Im Mittelteil der Show gehen die großen Erfolge als Schauspielerin über die Rampe, umstandslos per Video zugespielt: Cher in ihrer Rolle als Italian Lover in „Moonstruck“ (Oscar). Cher als Spät-Hippiefrauen-Powerfrau, die Jack Nicholson als Teufel in „Die Hexen von Eastwick“ das Fürchten lehrt. Cher, das Problemkind, in Filmen wie „Die Maske“ nunmehr selbst Mutter von Problemkindern, die Drogen nehmen oder von seltsamen Behinderungen entstellt sind. Der Mantel der Diva muss dies alles decken, und wundersamerweise tut er es.

Das kann nur gut gehen, weil sie zugleich die Epigonin und die Avantgardistin Madonnas ist, der großen, letzten Boheme-Mutter. Einerseits verwässert Cher das Erbe, das unsere Schwulen uns nur geliehen haben, noch weiter, andererseits ist sie der Igel, der dem Hasen schon immer voraus war. „Is It In His Smile?“, singt sie in dem grandiosen „Shoop Shoop Song“, einem Musterstück des pragmatischen Geschlechterkampfs, in dessen Clip sie in amerikanischen Ossi-Jeans fröhlich down and out mit unehelichen Töchtern vor einer graffitibeschmierten Brandmauer sitzt – schieß den Typen halt in den Wind! Cher kriegt die ganze Chose nämlich auch gebacken, ohne jemals ein Sterbenswörtchen von so seltsamen Dingen wie „gender“ gehört zu haben. Sie weiß einfach nur – und das teilt sie mit dem Großteil ihres Publikums –, dass Frisuren sich im Dienste der Selbstoptimierung unendlich umfärben lassen, dass Perücken dabei der Gesundheit zuträglich sind, und Männer Leute sind, die kommen und gehen.

Wenn das mal keine Botschaft ist, die die Bevölkerung sich in diesen schweren Zeiten zu Herzen nehmen sollte – gerade auch unsere ohnehin proletarisierten Intellektuellen! Cher 99 verkörpert das Scheiße-schwimmt-oben-Prinzip, die rollende Disco-Sozialhilfe. Und mit Würde! „Wer überlebt den Atomkrieg? Die Kakerlaken und Cher“ – auch das gehört zum Cher-Anekdotenschatz, von der Urheberin zwar nicht sonderlich geschätzt, aber durchaus beglaubigt. Shoop Shoop!