Shoa-Recycling mit Marketingdenken

■ Die Verfilmung von Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“ war der beste Film, der je in der DDR gedreht wurde. Immerhin 25 Jahre später gibt es nun ein Hollywood-Remake

Am 3. November eröffnet das US-amerikanische Northampton Film Festival sein Programm mit „Jakob der Lügner“. Zu sehen sein wird allerdings nicht die aktuelle Produktion, sondern Frank Beyers Original aus dem Jahre 1974. Gerade auf DVD erschienen (mit englischen, französischen, spanischen und hebräischen Untertiteln sowie umfangreichem Hintergrundmaterial), stößt der Film auf ein reges Interesse. Er war nicht nur der einzige Defa-Film, der je für einen Oscar nominiert worden war, er ist nun auch der erste ostdeutsche Streifen auf dem neuen Massenmedium. Man entdeckt derzeit in den USA diesen Film regelrecht. Von der New York Times bis zum Boston Phoenix erscheinen Artikel, die ihn nicht nur mit der Neuverfilmung von Peter Kassowitz vergleichen, sondern auch mit Roberto Benignis „Das Leben ist schön“. Judith Klein merkt in The Jewish Journal an, Beyer trivialisiere im Gegensatz zu Benigni den Schrecken des Holocaust weitaus weniger, sei aber ebenso humorvoll und warmherzig. John Morrison bezeichnet im Valley Advocate Kassowitz' Remake als Paradebeispiel dafür, wie Hollywoods Starrummel und Marketingdenken eine noch so gute Story zu ruinieren vermögen. Hier zu Lande kommt man um einen Vergleich der beiden gleichnamigen Filme natürlich erst recht nicht umhin.

Bei aller Polemik sei vorausgeschickt: Die amerikanische Variante liegt vom qualitativen Level her über dem allgemeinen Output der Traumfabrik. Allerdings muss die Messlatte hier auch besonders hoch gelegt werden. Deshalb zunächst Korinthenkackerei: Es ist eher unwahrscheinlich, dass in einem polnischen Ghetto Ende 1944 die Stromversorgung relativ stabil gewesen ist und die Frauen Zeit und Muße gefunden haben, sich das Achselhaar zu rasieren. Bei der SS gab es keine Generäle, sondern Obergruppenführer. Die im Film vorgeführten Uniformen und Rangabzeichen der Wachmannschaften sind reine Fantasieprodukte, sowjetische Panzer und deutsche Flugzeuge der vorliegenden Bauart hat es damals nicht gegeben. Und so weiter. Äußerlichkeiten, gewiss. Problematischer wird es dann schon bei der Zeichnung der Haupt- und Nebenfiguren. Hier zeichnet sich die Neuverfilmung durch die Abwesenheit jeglicher Differenzierung aus. Dass die Deutschen durchweg als Knallchargen gezeichnet werden, geht fast schon als Genrezwang durch. Dass die im Ghetto internierten Juden als Kollektiv von Lichtgestalten entworfen sind, stellt hingegen ein Indiz mangelnden dramaturgischen Instinkts dar: Wertvolle erzählerische Potenzen werden verschenkt. Insgesamt unterliegt Kassowitz gegenüber Beyer durch seine wesentlich gröber gestrickte Erzählstrategie.

Dabei hat es diese Geschichte doch wirklich in sich. Der Pfannkuchenkoch Jakob gerät eines Abends in die Räumlichkeiten des SS-Ortskommandeurs. Auf Anweisung eines Postens soll er sich dort eine „gerechte Bestrafung“ abholen. Ratlos durch die Zimmerfluchten irrend, hört er zufällig die Radiomeldung, dass sich die Sowjets bereits auf polnischem Gebiet befinden und weiter gen Westen drängen. Damit nicht genug: Jakob wird aus einer Laune des Diensthabenden heraus straflos zurück ins Ghetto geschickt. Das unerlaubte Wissen vom Frontverlauf nutzt er, für ihn selbst überraschend, als Therapie für die verzweifelten Leidensgenossen. Er behauptet, ein Radio versteckt zu halten. Plötzlich werden Hochzeiten geplant, Kinder geboren, die Selbstmordrate sinkt gegen null. Jakob erfindet immer neue Nachrichten. Doch die Wirklichkeit der Endlösung ist schneller als die imaginären Russen. Das Ghetto wird geräumt, Jakob und die Seinen besteigen die Viehwaggons der Deutschen Reichsbahn. „Wir fahren, wohin wir fahren“, lautet der letzte Satz in Jurek Beckers Roman.

Der im März 1997 verstorbene Jurek Becker hat als Kind selbst Ghetto und KZ durchlebt. Obwohl er anmerkte, sich nicht an konkrete Erlebnisse erinnern zu können, zeugt der Roman mit jeder Zeile vom Trauma der drohenden Vernichtung. Frank Beyer hat diesen grandiosen Stoff mit der ihm angemessenen Radikalität filmisch umgesetzt. Eigentlich hätte es diesen Film im Defa-Selbstverständnis gar nicht geben dürfen; seine Realisierung zog sich jahrelang hin. Er war offenbar zu komplex für die Kulturbürokraten. Beyer und Becker haben es verstanden, das offizielle Rezeptionsgebaren nicht nur der DDR zu unterlaufen. Sie waren 1974 viel weiter als Kassowitz heute. Claus Löser

„Jakob, der Lügner“. Regie: Peter Kassovitz. Mit Robin Williams, Bob Balaban, Armin Mueller-Stahl. USA 1999, 120 Minuten.