Ken Saro-Wiwas Tod bleibt nicht ungesühnt

Nigeria arbeitet seine düstere Vergangenheit auf. Eine Kommission untersucht die Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur. Vor allem die Ogoni-Minderheit rennt ihr regelrecht die Türen ein   ■  Aus Lagos Jahman Anikulapo

Für Justice Chukwudifu Oputa ist Überforderung das größte Problem. Der Vorsitzende der Untersuchungskommission über Menschenrechtsverletzungen in Nigeria ist überhäuft mit Arbeit: 8.000 Eingaben hat die „Oputa-Kommission“ erhalten, seit sie vor zwei Monaten ihre Arbeit aufnahm.

Jeden Tag kommen neue Anfragen von Nigerianern, die Aufklärung über Verbrechen während der Militärherrschaft suchen. Allein 3.000 Eingaben kamen von der Ogoni-Minderheit im Nigerdelta, die mit der Hinrichtung ihres Anführers Ken Saro-Wiwa 1995 traurige Berühmtheit erlangte.

Die Kommission wurde eingerichtet, nachdem im Mai dieses Jahre 16 Jahre Militärdiktatur in Nigeria zu Ende gingen und der gewählte Präsident Olusegun Obasanjo sein Amt aufnahm. Die Kommission soll Ursachen, Ablauf und Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen in Nigeria während der Militärherrschaft untersuchen, insbesondere ungeklärte politische Morde. Sie soll verantwortliche Personen, Behörden oder Institutionen benennen, die Auswirkungen auf Opfer und Gesellschaft feststellen und klären, ob die Menschenrechtsverletzungen Teil einer bewussten staatlichen Politik waren oder auf Einzelinitiative zurkgehen. Dann soll sie Vorschläge machen, wie die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit wieder gutgemacht und Wiederholungen in der Zukunft ausgeschlossen werden können.

Als Obasanjo Ende Juni die Bildung der Kommission ankündigte, gaben sich skeptische Kritiker noch einem Volksfest des Zynismus hin. Sie höhnten, Obasanjo richte ein zahnloses Gremium ein, um die Öffentlichkeit abzulenken. Obasanjo soll ja schließlich gleichzeitig die Grundlagen für eine dauerhafte Demokratisierung legen, die Korruption bekämpfen, die Wirtschaftskrise beenden und die nach 16 Jahren Militärherrschaft tief verwurzelte antidemokratische Psyche des nigerianischen Volkes verändern.

Nur zwei der acht Kommissionsmitglieder waren allgemein bekannt – Oputa selber und Matthew Kukah, Leiter des Genralsekretariats der katholischen Kirche Nigerias. Während Kukah gegen die Militärs seine Stimme erhoben hatte, galt Oputa als Konservativer.

Aber der anfängliche Zynismus ist einem warmherzigen Enthusiasmus gewichen. Vor allem die Ogoni, die unter dem Militär extrem gelitten hatten, machten sich mit Begeisterung daran, ihr Leiden vorzutragen. Dies ermutigte dann auch andere Teile der nigerianischen Gesellschaft.

Die Hinrichtung Ken Saro-Wiwas und acht seiner Mitstreiter am 10. November 1995 war erwartungsgemäß der erste Fall, der der Kommission vorgelegt wurde. Beobachter hatten ohnehin gemutmaßt, dass Präsident Obasanjo die Kommission vor allem eingerichtet hatte, um den Ogoni eine Stimme zu geben und das Vorgehen des Militärs gegen die Bevölkerungen des Niger-Deltas insgesamt zum Thema zu machen. Die Krise im Niger-Delta ist das explosivste Problem der Regierung Obasanjo, und sie entwickelt sich wie ein Krebsgeschwür, mit immer neuen Metastasen von Überfällen und Geiselnahmen rebellierender Gruppen. Neben den 3.000 Eingaben der Ogoni sind aus dem Rest des Niger-Deltas weitere 2.000 gekommen. Nun hoffen viele Nigerianer, dass die Kommission die notorisch ineffiziente Gerichtsbarkeit des Landes umgeht und Gerechtigkeit schafft. Am Montag fühlte sich Kommissionschef Oputa zu einer Klarstellung genötigt: „Wir sind kein Gericht“, sagte er. „Wir können keine Urteile sprechen. Wir klagen niemanden an. Wir sammeln Fakten.“

Das heißt nicht, dass die Arbeit der Kommission folgenlos bleibt. Sechs Mordfälle wurden bereits an die Gerichte verwiesen, darunter die Ermordung von Kudirat Abiola, erste Ehefrau des Siegers der annullierten Wahlen von 1993, auf offener Straße in Lagos im Juni 1996; und die mutmaßliche Vergiftung von Generalmajor Shehu Musa Yar‘Adua, Vizepräsident unter Obasanjo 1976 bis 1979 und unter dem 1993 bis 1998 herrschenden Diktator Sani Abacha zusammen mit Obasanjo inhaftiert, im Gefängnis Ende 1997. Für diese und andere Fälle stehen jetzt führende Vertreter der Abacha-Diktatur unter Anklage, darunter Abachas Sohn.

Die Oputa-Kommission hat eine Eigendynamik entwickelt. Sie will jetzt mehr Juristen anstellen. Sie wird nicht nur in Nigerias Hauptstadt Abuja tagen, sondern auch Tatorte besuchen. Sie will, dass die Regierung einen Fonds zur Entschädigung von Opfern einrichtet. Die Kommission soll jetzt auf Vorschlag Obasanjos sogar juristische Zähne erhalten und den Gerichten Vorschläge zur Bestrafung von Tätern machen.

Und das ist erst der Anfang. Als die Kommission eingerichtet wurde, gab es Kritik daran, dass ihre Arbeit erst 1984 beginnen sollte – und damit unter anderem Obasanjos erste Amtszeit als Militärherrscher 1976 bis 1979 ausspart. Obasanjo hat nun die Untersuchungszeit der Kommission bis auf Nigerias allerersten Militärputsch am 15. Januar 1966 ausgedehnt.

Damit darf sie sich nun auch mit dem Biafra-Sezessionskrieg 1967 bis 1970 beschäftigen, als Millionen Menschen im Osten Nigerias starben. Bis heute hat sich die Region von dem Krieg nicht erholt; es gibt viel mehr Witwen und Waisen als anderswo und unzählige Eigentumskonflikte. Würden alle Bürgerkriegsopfer Eingaben machen, hätte die Kommission weit über eine Million neue Fälle zu bearbeiten und würde sich in ein Tribunal über die gesamte jüngere Geschichte Nigerias verwandeln.

Und es soll bald öffentliche Anhörungen geben, bei denen auch die Antragsteller präsent sind. Damit würde die Kommission in die Fußstapfen der Wahrheitskommission in Südafrika treten. „Dies ist keine Kommission der Regierung“, sagt Oputa. „Es ist eine Kommission der Nigerianer.“