■ Die 35-Stunden-Woche in Frankreich erhält und modernisiert die Arbeitsgesellschaft: Sie sollte ein Vorbild für Deutschland sein
: Jospin wagt ein soziales Experiment

Nur mit weniger Lohn für weniger Arbeitszeit schafft man mehr Arbeitsplätze

Mit den beiden Gesetzen zur Einführung der 35-Stunden-Woche haben die französischen Sozialisten und ihre Verbündeten etwas gewagt, woran deutsche Sozialdemokraten schon nicht mehr zu denken wagen. Sie haben das europäische Sozialmodell, das von den Briten nicht geschätzt und von den Deutschen halbherzig verteidigt wird, noch einmal aktiviert: Damit ist Frankreichs Premier Lionel Jospin ein großes Risiko eingegangen. Misslingt das Sozialexperiment, wird das eine Niederlage für die gesamte europäische Sozialdemokratie sein. Hat es Erfolg, würde das am reinen Markt-Credo kratzen. Es wäre eine Demonstration, dass Arbeitspolitik möglich ist und somit eine praktische politische Ökonomie. Deswegen wünschen deutsche Arbeitgeberverbände, ökonomische Lehrstuhlinhaber und Wirtschaftspresse auch herzlich ein Misslingen. Und die SPD? Sie hält sich fern.

Eine staatliche Arbeitspolitik, die neue Arbeitsplätze schaffen will, indem sie die Arbeitsbesitzer zu Verzichten auf Arbeitszeit zwingt, kann heute auf zwei Wegen vorgehen. Sie setzt entweder das Ende des Arbeitslebens früher an: Rente mit 60. Oder sie vermindert die Jahres- beziehungsweise Wochenarbeitszeit: 35-Stunden-Woche. Damit veranlasst der Staat die Unternehmen, ständig Platz zu schaffen für Arbeitssuchende. Beide Wege können mehr Menschen in Arbeit bringen, wenn sie von Einkommensverzichten der Arbeitnehmer begleitet sind. Das ist zentral. Beide Wege enthalten jedoch innere Widersprüche, können unterlaufen und missbraucht werden: Sie sind nur zweitbeste oder drittbeste Lösungen.

Aber es gibt einen Unterschied zwischen den beiden Wegen der Arbeitspolitik, der gravierend ist: Der erste, die Verkürzung des Arbeitslebens, vermehrt die inaktive Bevölkerung einer ohnehin zu alten Gesellschaft: Der Staat befördert also seine Frühvergreisung.

Der zweite Weg, die Verkürzung der Jahres- beziehungsweise Wochenarbeitszeit, zielt auf Erhaltung und Vermehrung der aktiven Bevölkerung. Wenn er richtig angelegt ist, aktiviert er auch die Unternehmen und den Staat. Wo die Rente mit 60, die vermehrt Alte produziert, eine Politik der Resignation darstellt, kann, ja muss die Verkürzung der Wochenarbeitszeit zur Verjüngung und Modernisierung des Unternehmens antreiben, selbst wenn es beim bisherigen Rentenalter bleibt. Für die deutsche Rückschrittlichkeit ist bezeichnend, dass der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel ebenso wie der Arbeitsminister Riester auf den resignativen Weg des verkürzten Arbeitslebens zurückgefallen ist. Vor vier Jahren, als er eine verkürzte Jahresarbeitszeit bei gleichzeitigen Lohnverzichten anpeilte, hat er moderner gedacht. Er wurde ebenso wie der ÖTV-Vorsitzende Herbert Mai, der Ähnliches dachte, von den eigenen Leuten blockiert. Den gleichen Weg ging das Bündnis für Arbeit, das glücklicherweise fast am Ende ist. Würde seine jetzige Form, die eine Unform ist, zu irgendwelchen Ergebnissen führen, so wären sie gewiss negative Gesellschaftspolitik: Verstärkung der aktiven und kompetenten, aber schmalen Mitte der Gesellschaft, Vermehrung der Inaktiven, nicht mehr modern produzierenden und konsumierenden Bevölkerung am breiter werdenden Rand. Eben dies repräsentiert die neue Mitte der heutigen Regierung.

Die 35-Stunden-Woche, die in Frankreich im nächsten Jahr in den größeren Betrieben eingeführt wird – für kleinere Unternehmen gibt es noch eine Schonfrist –, zielt auf das Gegenteil. Während der zwei Jahre, die der Gesetzgebungsprozess dauert, hat die Arbeits- und Sozialministerin Martine Aubry, eine moderne Sozialpolitikerin, viel dazugelernt. Ursprünglich hatte sie eine gesetzliche Globallösung im Sinne, nach dem alten wohlfahrtsstaatlichen Modell, das mit Zwang und Sanktionen hätte arbeiten müssen und sich damit bald selbst blockiert hätte .

Das jetzt beschlossene Gesetz sieht vor, dass in allen Unternehmen spezielle Vereinbarungen zwischen Leitung und Arbeitnehmervertretern geschlossen werden. Die Verhandlungen darüber ziehen, so die Absicht, wie von selbst Betriebsmodernisierungen nach sich – wobei sich beide Seiten über eine Zielzahl von Neueinstellungen einigen müssen. Flexibilisierung und Zwang sollen also enger miteinander gekoppelt werden. Der Staat steht dabei mit einer ganzen Reihe von gezielten Beihilfen, die angenommen oder abgelehnt werden können, zur Verfügung: Insbesondere die Mindestlöhne und die Ausbildungsplätze sollen langfristig erhalten werden.

Das Modell, richtig benutzt, stärkt die Gewerkschaften und motiviert die Arbeitnehmer. Zudem hält es sie auch von klassenkämpferischen Neigungen ab. Das ist gut, denn gerade globale, nicht gezielte Proteste, die ja nach wie vor zum französischen Jahresrhythmus gehören, machen es den Gewerkschaften immer wieder schwer, Streiks in der Hand zu behalten und zu klaren Ergebnissen zu führen.

Wenn die 35-Stunden-Woche zu engeren Kooperationen innerhalb der Betriebe führen wird, so liegt darin auch einer der Gründe, weshalb ein beträchtlicher Teil der Gewerkschaften Martine Aubry nur mit Zurückhaltung, ja mit Widerstreben folgte. Denn damit könnten sie eine ihrer wichtigsten Aktionstaktiken verlieren: sich bei den vielen spontanen Streiks im richtigen Moment rasch zu organisieren und an die Spitze zu stellen. Auf diese Weise kompensieren die Gewerkschaften den niedrigen Organisationsgrad in der privaten Wirtschaft, der nirgends in Europa so gering ist wie in Frankreich.

Die Rente mit 60 lässt eine ohnehin zu alte Gesellschaft frühzeitig vergreisen

Die künftige Notwendigkeit dichterer Kommunikation im Betrieb unterläuft die beliebten Frontalkonflikte, die zum altmodischen Teil des sonst sehr erfolgreichen Kapitalismus in Frankreich gehören. Auf dieses Konto lässt sich nicht zuletzt schreiben, dass die lange Zeit mitgliederstärkste Gewerkschaft, die kommunistische CGT, sich von ihren ideologischen Fixierungen befreite und sich nunmehr von der Partei gelöst hat. Sie hat zuletzt konstruktiv am Projekt der 35-Stunden-Woche mitgearbeitet.

Dass in diesem Jahr die Wirtschaftskonjunktur wieder kräftig in Gang gekommen ist, gibt zwar scheinbar der Parole der Unternehmer und der beratenden Wissenschaftler recht: Seht ihr, gerade das Wachstum bringt Arbeitsplätze, und es bringt mehr als die Arbeitszeitverkürzung. Allerdings wird das Wachstum auch Wind in die Segel des Gesetzes blasen, weil es die Unternehmen zu Investitionen und Modernisierung ermuntert.

Die 35-Stunden-Woche wird sicherlich nicht die erhofften 700.000 bis 900.000 neuen Arbeitsplätze bringen. Aber selbst wenn es nur die Hälfte wären, hätte es die große politische Mühe schon gelohnt. Claus Koch