Halbdurchlässige Disziplinarmacht

Berlin Scanner: Damit aus Darlehensformularen keine Papierflieger werden, kontrollieren die Angestellten sich gegenseitig. Foucault hätte das gefallen. Im Panopticon der Dresdner Bank am Pariser Platz war  ■    Philipp Bühler

Haben Sie genauso viel Angst wie Kafka? Kennen auch Sie das Gefühl, von einer unsichtbaren Macht nach Gesetzen beherrscht zu werden, die Sie nicht kennen? Nein? Dann suchen Sie noch heute den Ort auf, an dem sich jenes Wissen erwerben lässt. Doch Vorsicht! Lassen Sie sich, bevor Sie den Weg zu jenem überaus interessanten Gebäude inmitten Berlins antreten, eine gute Ausrede einfallen. Denn bekanntermaßen steht vor dem Gesetz ein Türhüter. Vermutlich wird er Ihre Bitte um Eintritt abschlagen. Doch wer weiß. Vielleicht ist jene Tür ja nur für Sie bestimmt (an dieser Stelle denke man sich ein unheilvolles, sich langsam entfernendes Lachen ... ).

Das Gebäude der Dresdner Bank am Pariser Platz ist keine Schalterhalle und kein Erlebnispark: Der Pförtner lässt nur den ein, der auch etwas zu tun hat. Durch eine Glastür bietet sich jedoch auch dem Flaneur der Blick in jene erhabene Kathedrale der Geschäftigkeit, man muss allerdings hineingehen, um die ganze Dimension des etwa zwanzig Meter hohen Kuppelbaus zu erfassen und seine ausgesuchte Funktionalität würdigen zu können. Die Büros, in denen jeweils ein Angestellter seinen Dienst tut, sind in vier Geschossen kreisförmig um den leeren Kuppelsaal angeordnet. Jede dieser von überall einsehbaren Zellen wird durch eine ins Innere gerichtete Glasfront ausreichend mit Tageslicht versorgt, das durch die reichstagsherrliche Kuppel eindringt. Damit ist das Hauptproblem des Baus – keine Fenster, außer an der Fassadenfront – gelöst, und so verbindet die Zimmer auch nur noch ein ringförmiger Korridor.

Durch eine in die offene Glasfront eingelassene Tür tritt man ins Innere des Kuppelsaals und befindet sich auf einer schmalen, die Rotunde umlaufenden Brüstung. Deren Vergitterung löst das schaurige Befremden aus, wegen dem wir hier sind: Kafka! Wie einen Eiseshauch fühlen wir plötzlich die kalte Macht dieser stahlgläsernen Architektur. Im bangen Warten auf das Schnappen schwerer Schlösser oder gar das Rasseln rostfreier Rasselketten spitzen wir die Ohren. Befinden wir uns hier noch in einem Bürogebäude? Oder wirkt dies hier nicht eigentlich wie – ein Gefängnis?

Nun, was immer sich der Architekturkonzern Gerkan, Mark & Partner dabei gedacht haben mag: Mit der vor knapp zwei Jahren eröffneten Berliner Geschäftsleitung des Bankhauses hat er das Musterbeispiel eines so genannten Panopticons geschaffen. Das ist jene Idealform einer Überwachungsanstalt, die Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ beschrieben hat, seinem Buch über die Geburt des Gefängnisses: eine architektonische Machtmaschine, deren Effizienz auf dem simplen Prinzip von Sehen und Gesehenwerden beruht. In einer späten Verwirklichung dieser so nie in die Tat umgesetzten Überwachungsphantasie des 18. Jahrhunderts sind die 190 Angestellten der Dresdner Bank einer permanenten Sichtbarkeit ausgesetzt, die – folgt man Foucault – dem unbarmherzigen Blick einer sinistren „Disziplinarmacht“ die Unterwerfung ihrer willenlosen Körper ermöglichen soll: Die Angestellten simulieren hier wie in einem kleinen Theater permanent Aktivität, und die „Internalisierung eines Machtverhältnisses“ soll verhindern, dass sie ihre Füße zu lange auf den Tisch legen. Oder aus Darlehensformularen Papierflieger basteln.

Doch woher kommt dieser „Blick der Macht“? Kenner werden einwerfen, dass das zentrale Ordnungselement eines Panopticons fehlt: der zentrale Turm, der es einem einzigen Wärter ermöglichen sollte, alle Insassen auf einen Schlag zu kontrollieren. Aber, bitte schön, auch wenn es so aussieht, wir sind natürlich nicht in einem Gefängnis, sondern in einem ganz familiären Unternehmen! Die Angestellten überwachen sich einfach selbst. 380 Augen sehen mehr als zwei. Nach Foucault war der Wärter ohnehin auf sein Verschwinden hin konzipiert. Hinter halbdurchlässigen Lamellen sollte er sich verbergen, und es genügte, dass sich die Sträflinge überwacht fühlten. Er selbst könnte derweil daheim die Blumen gießen. Und siehe da: Auch die Banker können sich hinter ihren Lamellenvorhängen verstecken und spicken. Natürlich nicht den ganzen Tag, was würde das denn für einen Eindruck machen!

Um nun nicht gänzlich der Paranoia zu verfallen: Man kann Architekten und Bauherrn auch ein wenig von den schlimmsten Verdächtigungen entlasten. Erstens gibt es heute weniger archaische Methoden, Computerarbeiter zu überwachen, über ihr Arbeitsgerät nämlich. Und zweitens ist ein Bau nur ein Bau und Gucken prinzipiell nichts Grauenhaftes. So könnte man sich dieses Panopticon auch als innerbetriebliche Agora vorstellen: Jederzeit könnten die Angestellten aus ihren Kabinen treten und sich gegenseitig Geburtstagsständchen singen, Lohnforderungen stellen oder die Order an den Pizzaservice besprechen. Eine schöne Vorstellung. Die Dame von der PR-Abteilung versichert allerdings, dass die Angestellten genau das nicht tun.

Der Leser und die Leserin sind eingeladen, sich ihr eigenes Bild zu machen. Ein schöneres Panopticon als die Dresdner Bank am Pariser Platz werden Sie so schnell nicht finden. Doch auch wenn sie nicht dort arbeiten müssen, sollten Sie sich nicht in Sicherheit wiegen. Das Panopticon ist für Michel Foucault nur ein „verallgemeinerungsfähiges Funktionsmodell“. Sehen Sie sich also ruhig auch mal ein modernes Kaufhaus etwas genauer an. Gehen Sie in den nächstgrößten Supermarkt und studieren dort die Reihung der Kassen, an deren Ende sich gelegentlich die Kabine des Filialleiters befindet. Und dann überprüfen Sie bitte die Anordnung der Tische in Ihrem Großraumbüro. Und war Kafka nicht Versicherungsangestellter?

Dresdner Bank, Pariser Platz 6