Sibirisches Steppengut

Ohrfeigen für Stalins Liebling: Die „Gesammelten Briefe“ Ossip Mandelstams zeigen den Dichter als Kämpfer gegen Geldsorgen und Ungerechtigkeit  ■ Von
Wladimir Kaminer

Sein Vater, der selbst Gedichte schrieb, hatte Ossip Mandelstam immer vor dem Dichterleben gewarnt. Ossip sollte Lederhändler werden, wie er selbst. Doch zu spät. Als sein Sohn mit 22 seinen ersten Gedichtband veröffentlichte, der die Leser begeisterte, war er der Poesie verfallen. Er bat den Verleger, einen Brief an seine Eltern zu schicken, um sie zu beruhigen. „Gratuliere!“, schrieb dieser an die Familie Mandelstam, „Ihr Sohn ist ein echtes Talent!“ Der Vater akzeptierte das und schickte jahrelang seine eigenen Gedichte an den Sohn, in der Hoffnung, dass Ossip sie veröffentliche. Er verpackte sie in schöne Ledertaschen. Sein Sohn packte sie nie aus. Jahre später, als seine Frau, Nadeschda Mandelstam, Interesse an den Ledertaschen bekundete, warf er die Gedichte des Vaters weg und ließ aus den Taschen ein paar schöne Frauenschuhe für sie machen.

Mandelstam war ein Dichter von Gottes Gnaden. Er führte das Leben eines Narren, eines Märtyrers, und nichts und niemand konnte ihn davon abbringen. Er schrieb seine Gedichte nie auf, das sollten andere für ihn tun: „Ich allein arbeite in Russland mit der Stimme, die anderen Schurken kleckern auf dem Papier herum.“ Dafür schrieb er gern und oft Briefe: An seine Eltern, an seine Frau, an seine Kreditgeber und Freunde.

Über zweihundert Briefe hat der Ammann Verlag jetzt veröffentlicht. Sie schildern den aussichtslosen Kampf des Dichters mit dem Alltag. Das Wort „Rubel“ kommt besonders oft vor. Mandelstam bekommt keine Vorschüsse, er muss die Wohnung räumen, kann den Schneider nicht bezahlen, schuldet allen Geld ... Als die Revolution kommt, ist er gerade 26. Sie löst bei ihm eine Mischung aus Begeisterung und panischer Angst vor den neuen Leuten in Ledermänteln aus.

Viele Bolschewiken waren anfänglich große Freunde der Kunst. Sie tranken gern und oft mit den Poeten. Bei einem solchen Treffen griff Mandelstam für alle und auch für sich selbst unerwartet den berühmten Terroristen Blumkin an, den Mörder des deutschen Konsuls Mirbach. Mandelstam sah mit an, wie er betrunken die Todesurteile gegen Konterrevolutionäre unterschrieb, er riss ihm das Papier aus der Hand und verschwand. Anschließend traute er sich aus Angst eine Woche lang nicht nach Hause. Die Frau des Altbolschewiken Kamenew, eine Anhängerin von Ossip Mandelstam, sprach mit dem Leiter der Tscheka Dzierzynski. Und der Dichter kam ungestraft davon, dafür wurde Blumkin verhaftet. Ein anderes Mal verpasste er dem Stalin-Liebling Alexej Tolstoi auf einer Versammlung des Schriftstellerverbandes eine Ohrfeige.

Mandelstam litt selbst am meisten unter seiner Unfähigkeit, Kompromisse zu schließen. Er wollte so sein wie die anderen: Geld verdienen, für die Sowjetregierung schreiben, vielleicht den einen oder anderen Job als Redakteur und Übersetzer erledigen ... Aber seine unbedingte Natur und seine ungnädige Wahrnehmung widerstanden allen Anpassungsversuchen.

„Mein Wolfshund-Jahrhundert / Mich packts, mich befällts / Doch bin ich nicht wölfischen Bluts / Mich Mütze – stopf mich in den Ärmel / Den Pelz / Sibirisches Steppengut

Das dichtete er 1931. Mit der Zeit wurden die Tschekisten immer humorloser, Mandelstams Äußerungen immer vorlauter und gefährlicher. Die Revolution verschlang die Revolutionäre: Blumkin wurde hingerichtet, Kamenew und seine Frau wurden erschossen. 1934 verfasste Mandelstam ein Epigramm über Stalin. Es kam einem Selbstmord gleich. „Nun bin ich bereit zu sterben“, sagt er seiner Freundin Anna Achmatowa, als sie ihn besuchte. Stalin reagierte gelassen. Auf Mandelstams Akte schrieb er: „Isolieren, aber am Leben erhalten“. Der Dichter wurde für drei Jahre in die Verbannung geschickt. Dort, in einer Kleinstadt am Ural, unternimmt er mehrere Selbstmordversuche: Einmal bricht er sich bei einem Sprung aus dem Fenster ein Bein. Das Leben hat ihn zermürbt. Er hat keine Lust mehr:

„Ob zum Teufel ob zum Kotzen / Alles eins / Engel Mary, trinke Cherry / Saufe Wein! / Und ich sag dir mit der / Letzten Ehrlichkeit / Alles Quatsch und Cherry Brandy / Engel mein.“

1937 zieht Mandelstam mit seiner Frau wieder nach Moskau. Es ist das Jahr, das kaum ein russischer Dichter überlebte. Auch Mandelstam wird erneut verhaftet. Er bekommt fünf Jahre Arbeitslager wegen „antisowjetischer Propaganda“ aufgebrummt und stirbt, noch bevor er das Lager erreicht. Seine Witwe, Nadeschda Mandelstam, lernte seine Gedichte auswendig. Nach Stalins Tod ließ sie sie in die USA schmuggeln, wo man sie in den 60er-Jahren veröffentlichte. Seine Briefe konnten erst jetzt nach Öffnung der russischen Archive erscheinen.

Ossip Mandelstam: „Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David“, Gesammelte Briefe 1907 – 1938. Hrsg. und übers. von Ralph Dutli. Amman 1999. 491 S. 68 DM