Der letzte Schriftsteller macht das Licht aus

Endlich! Joachim Lottmann simuliert den echten, den großen, den wahren Roman zur „Deutschen Einheit“  ■   Von Thomas Groß

In den Ruinen des Betriebs, wo alles zu Ende geht, wird zuletzt auch der Tabubruch zum Kavaliersdelikt.

Soll keiner sagen, er habe von nichts gewusst! DEUTSCHE EINHEIT ROMAN VON JOACHIM LOTTMANN HAFFMANS 39 MARK steht auf dem Umschlag, schwarze Lettern auf rotgoldenem Grund, ohne Titelgrafik oder sonstigen Firlefanz. So schlicht kommen sonst bloß Hitler-Biografien daher, höchstens noch Grußworte von Frank Schirrmacher, mit anderen Worten: geschichtliche Würfe, ganz, ganz dicke Eier. Tja, das muss er dann wohl sein, der große, der lang erwartete Gegenwartsroman, oder?

Keiner kann allerdings sagen, der Autor habe sich in der Frage vorschnell festgelegt. Lottmann, in einem früheren Leben einmal Werbetexter, beweist Sinn für Verkaufsargumente, aber wenig ethische Standfestigkeit. Genauso gut, räsoniert er in einem Vorwort, könnte das Ganze „Alles Lüge“ heißen, als Groschenroman über Liebe und Leidenschaft durchgehen, als überdimensionierter Blondinenwitz aus deutschen Landen oder, noch besser, „pures Techno“. What you see is what you read. Und what you read is what you get.

Der Autor als Scharlatan und Etikettenschwindler: „Deutsche Einheit“ variiert ein Motiv, das Joachim Lottmann, mit 43 auch nicht mehr der Jüngste, bereits in „Mai, Juni, Juli“, seinem Debüt von 1987, ausgespielt hat. So lange ist er schon „in den Medien“ unterwegs (unter anderem auch als Gelegenheitsreporter für Die Zeit und das Springer-Boulevardblatt B. Z.), zu lange, um deren Rituale nicht bis zum Abwinken zu durchschauen. Was trotzdem immer wieder zu beweisen ist. Lottmann führt vor, wie durch und durch er das Illusionsgewerbe beherrscht, lässt Genres heraufklingen, täuscht virtuos marktgängige Schreibweisen an, um sie nach wenigen Zeilen ins Leere laufen zu lassen.

Moral, Gestaltungswille, Berufung, Eingebung – was einst den Schriftsteller auszeichnete, ist längst zu entzaubert, um noch „im Ernst“ gewollt zu werden. Melancholisch und höhnisch zugleich werden die Hohlformen der Profession, während man noch mit ihnen hausieren geht, zurückgespiegelt. Doch hier fängt, doppelt gebrochen, der Spaß erst an. Die Figur, von der erzählt wird, ein Mann namens Lottmann, will ihn ja „wirklich“, den großen Text zur Lage, zur Einheit, zur Gegenwart, „der Roman“ ist die fixe Idee seines Lebens. Eigens deswegen ist er von Köln nach Berlin gereist, die Stadt, in der Ost und West aufeinandertreffen, der Bär tobt, es Mauern in den Köpfen einzureißen gilt und was der Floskeln mehr sind. Und wenn alle Romane im Kopf mangels Credibility im Ansatz scheitern, so bleibt doch diese eine Geschichte eines Größenwahnsinnigen, der auf seine Weise aufs Ganze geht.

„Deutsche Einheit“ erzählt, amüsant und vordergründig schlicht, was dem Helden in der neuen Hauptstadt widerfährt, wen er trifft und wo er sich betrinkt. Schon bald hat er sich im Literarischen Colloquium Berlin eingenistet, wo „Freunde“ ihm ein Stipendium verschafft haben, logiert dort als munterer Parasit des Subventionsbetriebs mit Hang zum Schwadroneur, der von der alten Wannseevilla aus seine Streifzüge startet. Er treibt durch nicht oder kaum fiktionalisierte Orte und Szenen: die Kantine des Berliner Ensembles, den Ku'damm, die neuerwachten literarischen Salons des Westens, das Scheunenviertel, wo die Ostboheme verkehrt. „Freunde“ spielen ihm darüber hinaus Frauen zu, mit denen er Veranstaltungen besucht. Doch dies ist bereits wieder Teil des Problems: Die Frauen sind doof. Abgesehen von der „Zuckerpuppe Maren Born“, einer proletarischen Bedienung aus der Plattenbausiedlung Marzahn, „Katrin ohne h“ aus Friedrichshain und der magersüchtigen Julia erscheinen sie dem Schriftsteller durch die Bank als Vertreterinnen einer mediokren Öffentlichkeit und, sofern Lyrikerinnen, eines verödeten Literaturbetriebs.

Schärfer als in „Mai, Juni, Juli“ – und nach Lage der Dinge überraschend – tritt Lottmann (oder „Lottmann“) nun mit dem Anspruch auf eine „wahre Literatur“ aus der Kulisse. Die wiederkehrenden Jeremiaden gegen das Ausgedachte, Künstliche, Lebensferne, den schlechten Sex, der in der Berliner Luft liegt, lesen sich – Gewährsmänner: Christian Kracht und Bret Easton Ellis – wie das rudimentäre Programm eines Realismus, der mit den Selbsttäuschungen der anderen auch den eigenen Status als ausgebuffter Profi torpediert. Lottmann schreibt „so schlecht wie der Leser selbst“, bei ihm schmilzt „die bedrückende Distanz von sprachmächtigem Autor und impotentem Leser, der nur schlucken, folgen, konsumieren konnte“ konsequent auf Nullniveau. Was als Demutsgeste daherkommt, zeigt aber, nur knapp ironisch maskiert, zugleich einen letzten Avantgardeanspruch an: „Heimlich zogen sie ihre Pensionen, Preisgelder und Fördermittel ein, so wie der entlassene Mielke seine Rente. Der letzte Schriftsteller im Lande, im vereinten Vaterlande, das war ich!“

Derart von sich selbst zum Großschriftsteller geschlagen, macht Lottmann sich tatsächlich noch einmal an den großen Themen des Jahrhunderts zu schaffen, dem Holocaust und der deutschen Schuld – schließlich befindet er sich auf historischem Boden! Er pilgert zum Ort der Wannseekonferenz, wo die „Endlösung“ beschlossen wurde. Er schaut einem Heydrich-Foto ins Gesicht und kommt dabei ins Grübeln. Als Deutscher sprechen? „Absolut unmöglich. Man konnte nur Namen und Identität wechseln“. Hinter den vielen Maskeraden und Witzigkeiten des Romans deutet sich eine neue, eine ernste Variante an, die einer Verstrickung noch des Postmodernen in die Vergangenheit entspringt. Als deutscher Nachgeborener, so murmelt es von dort herauf, lässt sich Identität nur in der Identifikation mit dem Nichtidentischen behaupten: dem Schein, der Zerstreuung, dem „jüdischen Geist“.

Doch in den Ruinen des Betriebs bleibt auch diese Einsicht Episode, und wo alles zu Ende geht, wird zuletzt auch der Tabubruch zum Kavaliersdelikt. Liebevoll und tonnenweise fährt Lottmann Machoschrott auf, agiert indiskret“, inszeniert sich – gern im Schulterschluss mit deutschen Juden männlichen Geschlechts – als freundlicher Sexist, der „richtig dicke Milchtitten“ zu schätzen weiß. Nicht genug damit, dass er die „Deutsche Einheit“ im Nachwort buchstäblich vollzieht – im Bett (har, har), er spielt auch mit dem Gedanken an eine kleine Bücherverbrennung, geißelt (gähn) Schultheiß-Berliner und entziffert D-D-R als „der doofe Rest“. Es ist ein opportunes Spiel, bei dem insbesondere der Gedanke Kitzel bereitet, dass die Rezensenten ihm im Nacken sitzen, sein Werk „auf Stellen“ lesen, doch immer, wenn er sich so richtig in die Scheiße geschrieben hat, öffnet sich wie durch ein Wunder eine literarische Tapetentür: „Kein Autor hat's gesprochen, o nein, ein Ich-Erzähler war's.“

Lottmann weiß selbst zu gut, dass dieser müde Trick nicht mit seinem eben noch herausposaunten Echtheitsprogramm zusammen gehen kann; er müsste eigentlich auch wissen, dass sein „Realismus“ nur einen winzig kleinen Ausschnitt der Realität beackert, doch um solche Kinkerlitzchen ist diese Literatur unbesorgt. Sie lässt es offen, ob ihr Autor sie bei nochmaligem Durchlesen lieber doch nicht verantworten möchte, oder ob er – wahrscheinlicher – Positionen, gar politische, nicht letztinstanzlich für Schnee von gestern hält, uneinholbar geworden im endlosen Umwälzungsprozess urbaner Attitüden.

Eine tiefe Sehnsucht spricht trotzdem und deswegen aus seinem Roman. Es ist die Sehnsucht nach Erzählbarkeit, nach Ordnung, nach einer Form der Erotik, die, wenn Männer und Frauen schon kaum noch zusammenkommen, wenigstens den (männlichen) Sexualtrieb als Wurzel intakt lässt. Denn auch und gerade „als Bourgeois kommt man nicht ohne erotische Zeichen aus“. Sie sucht Lottmann im Dickicht der Stadt. „Die Literatur ist tot, aber wir leben – das ist es vielleicht sogar, was der Autor uns sagen will!“ Joachim Lottmann: „Deutsche Einheit“. Haffmans Verlag 1999. 383 Seiten. 39 DM