Hoffen wir auf die Zeit der Konfitüren!“

■ Ein Gespräch mit dem russischen Schriftsteller Viktor Pelewin über literarische Traditionen, die Macht des Geldes und russische Krimis

ir war schon sehr früh vollkommen klar, daß nur Schwerelosigkeit dem Menschen wirkliche Freiheit schenken kann!“- bereits mit seinem ersten Roman „Omon hinterm Mond“ (1992) wurde der 1962 in Moskau geborene Viktor Pelewin zum Wortführer einer jungen russischen Generation, in deren Leben der Sowjetstaat undauch die Dissidenten, „die Solschenizyns jeglicher Machart“, keine Rolle mehr spielen. Vom „New Yorker“ zu einem der „besten europäischen Schriftsteller unter 35“ gekürt, wurde Pelewin mit seinem stürmischen Romandebütin in Russland zu einem literarischen Popstar, der sowohl mit Baudrillard als auch dem Cyberspace vertraut ist. Und in der Tat muss man in Russland und anderswo lange suchen, um jemand zu finden, der so leicht, gewagt, subversiv, erfindungsreich und kraftvoll schreibt wie der bekennende Buddhist Pelewin. Mit seinem in diesem Jahr bei Volk& Welt erschienenen Roman „Buddhas kleiner Finger“ wurde Pelewin erstmals auch in Deutschland von einem größeren Publikum wahrgenommen. Zur Zeit ist er Gast im Literarischen Colloquium am Wannsee

Sie haben einmal gesagt, sie würden sich keinen Deut um russische Erzähltraditionen scheren, sie seien sowieso nicht Teil einer literarischen Tradition irgendeines Staates. Klingt da Verbitterung durch angesichts der Erfahrungen, die ihr Land mit der marxistisch-leninistischen Ideologie gemacht hat?

„Buddhas kleiner Finger“ ist in seiner Thematik sicher weltläufig, scheint mir aber zugleich bis in die Tiefenschichten ein durch und durch russischer Roman zu sein. Diese „literarische Tradition“ ist ein mythisches Konzept der Stalin-Ära, außerdem ein an sich sehr vager Begriff. Tradition stellt sich ja dialektisch über die Verneinung, die Überwindung des Alten her, wie das schon bei Puschkin zu sehen und zu lesen ist.

Was ist mit der Tradition des Realismus, der vielleicht größten literarischen Tradition Russlands?

Die liegt zur Zeit auf Eis. Weil unsere Realität wie Quecksilber ist und weil die Wahrheit darüber nicht mehr unterdrückt wird, bevorzugen viele Autoren im Moment die Satire oder das Allegorisch-Phantastische. Der Realismus unseres sowjetischen Jahrhunderts war der Absurdismus, denken Sie an Charms, Bulgakow und Platanow!

Die russische Kritik tat sich mit Ihnen zuweilen etwas schwer, man schob sie gar auf die schräge Ebene der „Alternativ-Fantasy“. Über „Buddhas kleiner Finger“ wurde geschrieben, dass das Buch „wie ein Computervirus wirkt, geschaffen, um das kulturelle Gedächtnis Russlands zu zerstören“.

Nonsense! Ich bin mir nicht sicher, ob es ein kulturelles Gedächtnis Russlands überhaupt gibt. Das sind allzu aufgeblasene Begriffe. Und: Wenn etwas zerstört werden kann, dann sollte es zerstört werden! In der Woche, nachdem eine Kritikerin dies schrieb, wurden von dem Buch 10- bis 15 000 Exemplare verkauft. Das zeigt wohl die allgemeine Einstellung zu unserem kulturellen Gedächtnis!

Was liest man denn ansonsten bevorzugt im Russland der Neunziger?

Krimis und vor allem russische Gangsterstories als Kompensation für diesen russischen Minderwertigkeitskomplex - diese Typen können einfach mehr ficken, mehr töten, mehr saufen! Der Gedanke aber, dass es einen richtigen Krimi geben könnte, ist ziemlich absurd. Der wäre schon nach ein paar Seiten zu Ende, weil der Detektiv Opfer einer Kugel würde. Und es ist eigentlich auch ziemlich lächerlich, sich in solchen Geschichten weitergehende Gedanken über Schuld und Sühne, über Verbrechen und Strafe zu machen, da kein einziger Verbrecher, der in Russland an einem Kapitalverbrechen beteiligt war, je gefasst wurde! Russsiche Krimis sind demnach pure Science-Fiction!

Gibt es in Russland so etwas wie eine neue Sprache, die die alte Sprache des sozialistischen Realismus ersetzt hat? Einen Ausbruch kreativer Energie?

Nein, eben weil diese sogenannte „zweite russische Revolution'' keine Revolution, sondern ein Kollaps, eine Implosion war. Künstler können keine Kultur finden, die die Nation oder die Welt beschreiben könnte, wenn diese Nation ihren Platz in der Welt nicht kennt. Eine Nation kann nur eine schöpferische Kraft sein, wenn sie eine spezifische Kultur vertritt. Das hat Russland heute nicht, Russland ist einsam wie nie zuvor. Die neue Sprache ist: Money talks, bullshit walks!

Es dreht sich alles nur ums Geld. Das ist ein ganz primitiver Banditenkapitalismus. Geld ist dabei eine Macht, die auf keinerlei moralischen Werten beruht. Hier herrscht die nackte Macht des Geldes. Im Westen gibt es dafür zumindest moralische Pufferzonen. Die Katastroika, die Reformen der letzten Jahre, die haben die Menschen von ihrem Gewissen befreit. Jetzt können sie ohne moralische Bedenken und Verpflichtungen handeln.

Wieviel Einfluss haben die russischen Schriftsteller auf den öffentlichen Diskurs?

Keinen großen. Gut, Solschenizyn hat moralische Autorität. Aber nicht als Schriftsteller, sondern weil er ein wirklicher Held ist und sich dem ganzen System entgegengestellt hat. Schriftsteller in Russland zu sein bedeutet mittlerweile genau das gleiche wie im Westen: Er hat die Leute zu unterhalten

Gibt es heute keine Grundlagen mehr für den Aufbau kollektiver Werte, keine verbindende russische Identität?

Das ist ein ernsthaftes Problem, das im Westen nicht leicht verstanden wird. Unsere Gesellschaft befindet sich an einem entscheidenden Punkt ihrer geistigen Entwicklung. Für über 70 Jahre war Russland vollkommen abgetrennt von der Welt. Der Sowjetstaat war das Weltall, die Religion, ein gigantischer Erdteil, in den Worten seiner Gründer der Gipfel menschlicher Geschichte und des Wissens. Dieser Kosmos war nach seiner Mythologie radikal neu, die Zeit der Schöpfung. Wir gehörten einem einmaligen, unverwechselbaren Typus Mensch an. Jetzt sind wir Teil der Welt, und wir werden die Frage beantworten müssen, was es eigentlich heißt, Russe zu sein.

Nicht zuletzt durch die Bombenanschläge der letzten Zeit bekommt man den Eindruck, dass Russland in einem hoffnungslosen Chaos versinkt...

Stimmt, aber 10 Jahre sind bei einer so umwälzenden Umgestaltung eines so großen Landes nicht viel. Die historische Reise, die Russland vor sich hat, wird länger dauern. Immerhin hat Russland den Sowjetkommunismus überwunden, also wird es auch den augenblicklichen Zustand überleben.

Die Metapher vom „russischen Wunder'' trifft durchaus zu, wenn man bedenkt, daß alle Nationalstaaten aus Kriegen entstanden sind. Wir haben es friedlich geschafft. Aber die Situation ist natürlich eine gigantische Katastrophe, ökonomisch, ökologisch und auch für Seele und Bewusstsein. Wir sind tief gesunken... aber wir sind würdige Menschen.

Und was erwarten Sie von der Zukunft?

Rosanows berühmte Antwort war: „Nun ja, im Sommer Konfitüren machen und im Winter den Tee zu diesen Konfitüren trinken.“ Hoffen wir also, dass die Zeit der Konfitüren bald wieder kommt!

Interview: Egbert Hörmann