Nicht einmal Ersatzidylle

Bei keiner Bauaufgabe besinnt man sich so offensichtlich auf ostdeutsche Erfahrungen wie bei Kindertagesstätten. Teil II: „DDR-Architektur“   ■  Von Hans Wolfgang Hoffmann

Dass Kinder im Zentrum der Gesellschaft stehen sollten, ist ein oft wiederholter Gemeinplatz. An der Rummelsburger Bucht, dem städtebaulich gelungensten Siedlungsprojekt im Nachwende-Berlin, haben sie jetzt tatsächlich diese Schlüsselstellung: Ihr Haus steht an der breitesten Stelle der Lichtenberger Uferpromenade, gerahmt von einer Kompanie strenger Backsteinblocks. Ihre Höfe sind Häfen der Heimeligkeit. Die Lage ist eines Schlosses würdig. Doch die Kita ist eine Kiste, rund vierzig Meter lang, mehr als fünf hoch und in etwa doppelt so breit, bretterbeplankt, windschief.

Sieht man über diese Details hinweg, erinnert die Kiste an die Kinderkombinationen, die in der DDR seit Ende der Sechzigerjahre massenweise übers Land gestreut wurden. Auch einige Ideen, die in ihr stecken, drängen einem die paradoxe Parallele auf: Ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Abrechnung mit den Methoden der DDR-Kindergärten allenthalben die Feuilletons füllt, rekonstruiert das vereinte Deutschland ihr Gedankengebäude.

In der Tat unterschieden sich die Kindertagesstätten sowie das Ideenfundament, auf dem sie errichtet wurden, in Ost und West erheblich. In der alten Bundesrepublik war es die Ausnahme, dass Menschen in der Obhut des Staates aufwuchsen. Das Erziehungsmonopol oblag den Eltern. Die ideale Kita war gar keine. Folglich wollten die öffentliche Einrichtungen Ersatzidyllen für Einzelkinder sein. Als sei die Gemeinschaft der Gleichaltrigen nicht die einzige Erfahrung, die die Kita gegenüber der Kleinfamilie legitimieren kann, war der Rückzugsraum wichtigster Baustein ihrer Grundrisse. Die Neuschwanstein-Kopien von Klaus Baesler und Bernhard Schmidt im südlichen Tiergartenviertel oder von Bessenge, Puhan-Schulz & Partner in der Kreuzberger Friedrichstadt sind dafür die offensichtlichsten Berliner Beispiele. Über postmoderne Moden hinaus war alles kindgerecht. Die Architektur betonte die Infantilität ihrer Nutzer. Sie gebar reine Entertainmentcenter, die alles vermieden, was die Kinder in ihrer Entwicklung hätte beeinflussen können; selbst auf die Gefahr hin, sie künstlich klein zu halten. Dahinter stand das Ideal, dass ein Mensch schon qua Geburt eine Individualität besitzt, die sich aus sich selbst heraus entfaltet.

Anders in der DDR. Hier glich das Neugeborene einem Novizen, dessen Persönlichkeit erst mit der Zeit entsteht. Folglich baute man nicht für Kinder, sondern, wie es der Dresdner Kita-Spezialist Helmut Trauzettel ausdrückte, für „Menschen im Entwicklungsalter“. Über das Erziehungsziel wurde in Ostdeutschland viel gestritten. Den einen Gegenpol bildete die Marxsche Vorstellung, dass der Mensch nicht nur passives Produkt, sondern aktiver Gestalter seiner Umwelt sei, die sich insbesondere aus dem 1946 von der Sowjetische Militär-Administration erlassenen „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ herauslesen lässt. Ebenso proklamierte die Leiterin des Sektors Vorschulerziehung beim Volksbildungsministerium noch 1968 das Ideal des „selbständig denkenden, verantwortungsbewußt handelnden Menschen, der imstande ist, sein Leben und das der Gesellschaft in die Hand zu nehmen“. Dabei hatte sich bereits drei Jahre zuvor das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ der „Heranbildung sozialistischer Persönlichkeiten“, mit hin von „Personen, die fähig und bereit sind, sich in die Gemeinschaft einzuordnen“, verschrieben. In jedem Fall war die Kita nicht bloße Verwahranstalt, sondern Ort der Bildung. Und diese sollte allen zuteil werden. 1987 waren im Osten Kita-Plätze für 94 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen gebaut, im Westen nur für 68.

Sowohl von der Bestimmung wie vom Auftragsvolumen her verboten sich den DDR-Kita-Bauern künstlerische Kraftakte. Die Architektur nahm sich zurück und überließ die Gestaltung der Lebensumwelt anderen. Das waren allein ihre Nutzer. Die hohlwandigen Skelettkonstruktionen erlaubten nicht nur, dass sich die Kinder und ihre Erzieher selbst einrichten. Die neutralen Räume schrien geradezu nach Aneignung.

Dass man sich nach der Wende dem DDR-Ideal annäherte, geschah freilich nicht aus Überzeugung. Vielmehr ergab sich der Sinneswandel aus der Tatsache, dass infolge des nun in ganz Deutschland geltenden Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz die Bauaufgabe quantitativ bedeutsamer, die finanziellen Spielräume aber immer enger wurden. So stehen heute jeder Tagesstätte Baubudgets zur Verfügung, die deutlich unter den in Westberlin üblichen liegen. Der Sparzwang bedingte, dass man sich bauökonomischer Kunstgriffe besann, die in der DDR alltäglich waren.

Dass man das Prinzip freilich noch nicht ganz begriffen hat, belegt das Beispiel Rummelsburger Bucht. Dort war der Etat bereits auf nicht eben üppige 4,4 Millionen beschränkt. Auch hier setzte sich das Avantgarde-Büro Alsop/Störmer mit einem auf Reproduzierbarkeit angelegten Modellentwurf durch. Dem Prototyp sollte mindestens ein identisches Exemplar am anderen Ende der Siedlung folgen. Seine Konstruktion bestand aus vorgefertigten Teilen, die je nach Bedarf zu mehr oder weniger Räumen montiert werden können.

Eine noch radikalere Prioritätensetzung wäre vonnöten gewesen, als im Lauf der Planung die Baukosten gar auf den absoluten Niedrigpreis von 2,6 Millionen für 100 Kita-Plätze reduziert wurden. Doch das genau gelang Jan Störmer nicht. Der Hamburger verteidigte vor allem seine Fassade, die denn auch die gestalterische Redundanz ihrer Vorläufer abschüttelt. Wenig kümmerte er sich indes um eine innere Konstruktion, die kindliche Aktivitäten zulässt. So ist eine Wand aus Schiefertafeln, welche die Kinder nach Lust und Laune bemalen können und die freilich schon zur Standardausrüstung der alten DDR-Kitas gehörte, das einzige Aneignungsmöbel. Die Küchen wurden derart hoch angebracht, dass die Erzieher darin zwar Mahlzeiten aufwärmen können, gemeinsames Kochen aber nicht mehr möglich ist. Da die Kita nicht, wie ursprünglich geplant, aus Holztafeln besteht, sondern aus nacktem Stahlbeton, macht eine Schlagbohrmaschine nötig, um auch nur ein Bild aufzuhängen! Auch an den löchrig gel ben Deckenplatten aus Gips, die den einzigen „Schmuck“ der Gruppenräume abgeben und gegen den Hall in der Betonbox montiert werden mussten, lässt sich nichts befestigen. Die Architektur verhindert, was sich ihr Schöpfer wünschte: dass sich die Knirpse mit Pappen und Decken ihre eigne Welt erbauen. So kann das dynamische Äußere der Kiste nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie anders als die DDR-Kinderkombinationen kaum zur Rappelkiste werden kann.

Teil III erscheint erscheint am 6. November: Leben auf dem Flur – Wohnbau in Ost und West.