Ungeliebte Hochkultur

Sie wurden gegängelt und zugleich gehätschelt. Man bedachte sie generell mit zensierender Aufmerksamkeit: Menschen, die sich im Sozialismus der hohen Kultur verschrieben. Seit 1989 haben sie nicht nur Freiheit gewonnen, sondern auch fast jede Pflege durch die neuen politischen Mächte. Vom Verfall der alten Eliten ein Essay von Erhard Stölting

Dichter, Künstler, Musiker, Kulturwissenschaftler und Essayisten waren in der Opposition aktiv gewesen. Hatten Freiheit eingefordert und nahmen an, dass eine zivile Gesellschaft zugleich eine der freien Kreativität sein würde. Diese Erwartung wurde enttäuscht. In allen exsozialistischen Ländern setzte nach kurzem euphorischen Höhepunkt die große Demobilisierung ein.

Die opportunistische Mehrheit orientierte sich jetzt am neuen politischen und ökonomischen System. Mit wenigen Ausnahmen aber waren die marginalisierten Verlierer jene, die die Wende mit ihrer Courage ermöglicht hatten. Kunst und Literatur wurden nicht mehr gegängelt, es herrschte der Markt; nur was verkäuflich war, überlebte. Nun zeigte sich, dass das zahlende Publikum zu klein oder zu arm war, um den einst prominenten Künstlern und Dichtern die Fortsetzung ihres bisherigen Lebens zu ermöglichen.

In seiner bis heute unübertroffenen Analyse „Der Staatskünstler“ hatte der ungarische Soziologe Miklós Haraszti schon Anfang der Achtzigerjahre diese Konstellation geschildert. Der Staat bezahlte den Künstler, aber dafür überwachte und bevormundete er ihn auch. Indem er die Kultur gängelte, betonte er ihre herausragende Bedeutung und damit auch die der „Kulturschaffenden“. Das Ende der zensierenden Aufmerksamkeit bedeutete weitgehend ein Ende der staatlichen Aufmerksamkeit überhaupt.

Natürlich ist nirgendwo alles zerfallen. Die Konzertsäle und Theater füllen sich noch immer mit einem kompetenten Publikum, auch wenn es geschrumpft ist. Aber die Verarmung ist unübersehbar. Sie verweist auf tiefgreifende soziale Veränderungen. Das gebildete Publikum war und ist ein wesentliches Element aller europäischen Gesellschaften. Die hohe Kultur, deren sozialer Träger es war, definierte sich als spezifisch national. Die Pflege der nationalen Sprache, Poesie und Musik schloss zwar nie kosmopolitische Verweise aus, wie die Kenntnis bestimmter privilegierter Fremdsprachen. Aber indem die hohe Nationalkultur als hohe Kultur überhaupt fixiert wurde, erhielt auch die Nation ihre Würde. In diesem Sinne hat das tschechische Bürgertum Prags im 19. Jahrhundert zweimal ein prächtiges Nationaltheater finanziert.

Ein näherer Blick auf das gebildete Publikum Mitteleuropas lohnt sich also. Es muss sich nicht immer zu einer kompakten sozialen Gruppe herauskristallisieren. Aber es ist fast überall ein Ferment des gesellschaftlichen Lebens gewesen. Es setzt sich aus jenen Menschen zusammen, die Konzerte unpopulärer Musik besuchen, die viele Bücher kaufen, den Diskussionen der Zeit folgen und Museen besuchen. In allen Ländern ist dieses Publikum eine Minderheit; aber dennoch verfügt es über so viel Einfluss, dass der Staat kulturelle Einrichtungen finanziert – obwohl die Mehrheit dem gleichgültig gegenüber steht. Zwischen diesem feinen Publikum und der normalen Bevölkerung liegt eine Differenz, die von beiden Seiten durch Vorurteile, aber auch durch Wunschvorstellungen markiert wird.

Die Profis des Kulturbetriebs sind anders. Sie schreiben jene Bücher, die andere nur lesen, sie spielen die Musik, die andere nur hören. So entwickeln die Profis eine Virtuosität, die das gebildete Publikum nicht erreichen kann. Sie leben daher zwar von der Zuneigung des zahlenden Publikums und verachten doch dessen Inkompetenz. Endemisch im Kulturbetrieb waren Hoffnungen, das Publikum erziehen zu können. Das Publikum übernahm nicht nur die Maßstäbe der kulturellen Produzenten, es wendete sie zugleich gegen sich selbst. Die Verehrung großer Schriftsteller und Künstler, die Bereitschaft, nicht nur ihre Werke zu kaufen, sondern sich in ihre Tagebücher zu vertiefen, zeigt, wie sehr sich das Publikum mit den großen Kreativen identifizierte.

Andererseits bezog das Publikum aus seiner Rezeption der hohen Kultur soziale Distinktion. Die hohe Kultur rezipierende Minderheit sah und sieht sich selbst als Elite. Kultiviertheit erscheint als angeboren. Denn der Kulturkonsum setzt eine Bildung voraus, die nicht über Diplome abgeprüft wird. Wer nicht in die entsprechenden Milieus hineingeboren wurde und nicht die entsprechenden Schulen besuchte, hat kaum Chancen, die Standards zu erreichen. Der Soziologie Pierre Bourdieu hat diesen sozialen Mechanismus des „guten Geschmacks“ für die französische Gesellschaft gezeigt. Er ist für alle europäischen Gesellschaften generalisierbar. Wer in Geld und Macht hineingeboren wurde, legitimiert seine Position gern über Bildung und Geschmack.

Aufsteigern fehlt aus diesem Grund zunächst meist soziale Anerkennung. Sie gelten als Emporkömmlinge. Aber schon ihre Kinder haben dieses Problem nicht mehr. Das Auseinanderfallen von Kultiviertheit und gesellschaftlicher Macht wird in Zeiten rascher Umwälzungen besonders augenfällig. In nachrevolutionären Zeiten sitzen meist Leute an den Hebeln der Macht, die in den Augen des nun marginalisierten gebildeten Publikums vulgäre Emporkömmlinge sind, die die Kultur zerstören.

Dieser Mechanismus wirkte sich nach 1945 in den sozialistischen Ländern Mitteleuropas in erwarteter Weise aus. Fast überall hatte das gebildete Publikum sein soziales Substrat im Adel, im Bürgertum oder der höheren Beamtenschaft gehabt. Das gebildete Publikum war in sozialistischen Zeiten daher partiell eine bürgerliche Trotzgemeinschaft. Stärker als in Russland konnte sie in Mitteleuropa fortbestehen, sich Nischen suchen und dort eine unpolitische kultivierte Renitenz pflegen. Andere neue Segmente aber stießen zu diesen Teilen des Publikums hinzu: So gab es auch in der kommunistischen Bewegung kultivierte Milieus, meist Intellektuellenfamilien, die eine eigene Bildungstradition entwickelten.

Hinzu kam, dass seit den Sechzigerjahren auch in sozialistischen Ländern Tendenzen zur sozialen Schließung aufkamen. Auch wenn die Kinder „bürgerlicher“ Herkunft noch behindert wurden, den neuen Führungsschichten gelang es, ihren Kindern elitäre Bildungschancen zu sichern. Die sozialen Eliten begannen nicht nur, sich aus sich selbst zu rekrutieren, sondern sich über Kultiviertheit und Bildung sozial auszuweisen.

Sicherlich wirkten sich hier auch subversive Potenziale, die der hohen Kultur innewohnen, aus; die hohe Bildung weckte zuweilen Renitenz. Diese Tendenz wurde durch ein Charakteristikum sozialistischer Staaten verstärkt. Da es ein finanzkräftiges Bürgertum nicht mehr geben konnte, wäre die hohe Kultur ohne staatliche Unterstützung nicht existenzfähig gewesen. So übernahm der Staat finanziell die Rolle des Bürgertums. Das war zunehmend auch in den nichtsozialistischen Ländern der Fall. Aber das Ausmaß der staatlichen Kulturfinanzierung war viel umfassender als im Westen.

Der Staat finanzierte nicht nur Theater und Orchester, er ermöglichte es Poeten zu dichten, er förderte Übersetzungen auch aus entlegenen Sprachen, und er subventionierte Bücher, sodass sie für schmale Einkommen erschwinglich waren. Natürlich war dies kein Paradies; die staatliche Kontrolle war demütigend. Viele gute Bücher durften nicht erscheinen, oder sie erschienen in kleinen Auflagen; dafür blockierte langweiliger Mist die Regale. So entstand das begründete Bild einer bildungsfeindlichen Kulturbürokratie. Aber es war die gleiche Bürokratie, die den erhabenen Anspruch, der der hohen Kultur innewohnte, stützte.

Nicht in allen Ländern wurden Arbeitsbrigaden gezwungen, Opernvorführungen zu besuchen. Aber die Absicht, die hohe Kultur erzieherisch einzusetzen, bewahrte den ursprünglichen Anspruch der hohen Kultur auf. Nun ist das gebildete Publikum wieder marginalisiert. An den Spitzen der Gesellschaft formieren sich neue Gruppen von Aufsteigern oder Umsteigern: junge Unternehmer, ehemalige Jungfunktionäre oder Gauner mit gutem Überblick. Sie können sich mit Kultur nicht aufhalten; ihre Position brauchen sie nicht zu legitimieren.

Noch sind die Zeiten ungünstig für die hohe Kultur und das Bildungspublikum in Mitteleuropa. Denn die Kaufkräftigen interessieren sich nicht für Kultur, und weder das kulturell interessierte Publikum noch der Staat haben Geld. Die Konsolidierung der mitteleuropäischen Gesellschaften braucht Zeit. Danach werden sich die neuen Eliten wieder kulturell legitimieren wollen. Sicher wird es danach keine einfache Renaissance des gebildeten Publikums geben, wie es in der Zwischenkriegszeit und im Sozialismus existierte. Was dann kommt, wird Teil einer europäischen Dynamik sein, deren Gestalt noch kaum erkennbar ist.

Erhard Stölting, 56, seit 1985 taz-Autor, Professor für Soziologie an der Uni Potsdam mit dem Arbeitsschwerpunkt „Transformationsprozesse in Osteuropa“