Platten und Plattheiten

Auftakt der Pariser Opernsaison mit Rameau, Puccini und Steinschlag. Das spannendste Bastille-Theater spielt derzeit vor dem Verwaltungsgericht  ■   Von Frieder Reininghaus

Großzügig, modern, solide: Von diesem Konzept einer „Volksoper“, unter Mitterand geplant, ist nicht nur der Lack ab

Vor zehn Jahren wurde die Opéra Bastille eingeweiht. Mit diesem kolossalen Neubau am Ostende der großen architektonischen Achse, an der der Louvre liegt und die Champs Elysées, der Triumphbogen und im Westen der große neue Bogen von La Défense, sollte die französische Hauptstadt ein Superunternehmen des Musiktheaters erhalten: großzügig, modern, solide.

Was die Solidität betrifft, so wurde diese bald durch die Wiederkehr der Streiks erschüttert, die schon im alten Palais Garnier die kontinuierliche Arbeit behindert hatten; doch dieses Problem hat der Direktor Huges Gall in den Griff bekommen. Ein anderes macht ihm jetzt zu schaffen: das allzu rasche Altern des Neuen. Das kolossale Haus an der Place de la Bastille begann außen zu bröckeln, bevor es innen fertig war.

Auch nach zehn Jahren fehlt noch immer der dritte Saal in dem Gebäudekomplex. Für Mozart-Opern ist die Haupthalle viel zu groß; sie lässt eine akustisch befriedigende Entfaltung der klassisch dimensionierten Musik nicht zu. Das Amphitheater im Keller hingegen ist nur für Kammermusik ausgelegt; es verfügt nicht über die erforderliche Bühnentechnik. So wird seit geraumer Zeit das teilrenovierte (und derzeit an der Frontseite verbretterte) Palais Garnier für die Werke des Musiktheaters aus dem 17. und 18. Jahrhundert genutzt.

Gerade jetzt wieder für die Opéra-ballet „Les Indes galantes“, mit der Jean Philippe Rameau von 1735 an bemerkenswerte Erfolge errang (übrigens auch eine Bearbeitung des Werks von Paul Dukas in den Fünfziger- und Sechzigerjahren unseres Jahrhunderts).

Nun wird die musiktheatralische Mischform – halb ein Pasticcio aus vier komischen Kurzopern und halb ein Ballett – als behutsam modernisiertes Barock-Spektakel gezeigt. In den grellen, bunten Bildern von Marina Draghici präsentiert Andrei Serban völlig problemlose Ausflüge in ein erotisches persisches Blumenreich und in ein türkisches Serail (die Handlung wurde dann von Mozart folgenreich noch einmal komponiert).

Exotischer muten heute die Stippvisiten in den Wilden Westen und zu den Inkas in Peru an. In diesem Opern-Amerika rivalisieren ein Spanier, ein Franzose und ein Häuptling der Eingeborenen um die Gunst der schönen Zima, die es am Ende mit ihresgleichen hält. Im Anden-Hochland aber sticht der spanische Offizier Don Carlos bei Prinzessin Phani den Hohepriester der Sonne aus, obwohl dieser die Erde erbeben und den Vulkan ausbrechen lässt – die von seinen Geistern emporgeschleuderten Steine erschlagen ihn am Ende selbst.

Die Unterhaltungsmusik des Spätbarock, einst Konfektionsware, wird von William Christie mit dem Orchester und Chor des Arts Florissants nach streng historistischen Regeln zu langwierigem Leben erweckt. Mehr als vier Stunden Rameau-Musik entfalten heute nur noch bedingt erotischen Reiz, selbst wenn dazu schöne Beine, strohblonde Perücken und mitunter sogar artistische Hochleistungsnummern am Seil gezeigt werden.

So optisch anmutig sich zum Saisonauftakt in Paris die Rameau-Reaktivierung im Palais Garnier präsentierte, so unbegreiflich grobschlächtig kam die Chinesin Turandot in Gestalt der amerikanischen Musiktruhe Jane Eaglen an der Opéra Bastille zum Vorschein: auch die Stimme mehr Drohung als Verheißung. Alison Chittys Ausstattung eröffnet die Aussicht auf ein Kombinat für Gerüstbau, viel arme Leute und das graue Frauenbataillon um die angeblich so verführerische Prinzessin in einem Hühnerkäfig. Da kommt auf Prinz Kalaf eine schwere Aufgabe zu. Franco Farina stellt sich ihr mit dröhnender Stimme, zu der James Conlon aus dem Graben orchestrale Knalleffekte beisteuert.

Das eigentlich spannende Bastille-Theater findet derzeit vor dem Verwaltungsgericht statt. Da geht es um die Haftung für die haarsträubenden Mängel beim Bau des Opernflaggschiffs, das wie eine gestrandete Autofähre aussieht und inzwischen teilweise mit großen groben Netzen überzogen wurde. Gegen Steinschlag. Juristisch geklärt werden soll, wer für viele Millionen an Reparaturkosten aufzukommen hat: Ein Teil der zentnerschweren Verkleidungsplatten an den Fassaden stammt aus einem Steinbruch in Burgund, dessen brüchiges Material von Anfang an Haarrisse aufwies.

Um im Frühjahr 1989 das Einweihungsdatum nicht zu gefährden, wurde kurzerhand die Qualitätskontrolle außer Kraft gesetzt. Sehr bald aber haben Wind, saurer Regen und Vibrationen die feinen Spalte so vergrößert, dass die schönen schweren Stücke auf die Gehwege herunterzuprasseln begannen.

Zusätzlich stellte sich heraus, dass ein weiteres Drittel der 36.000 edlen weißen Steinplatten nicht mit geeigneten Haltevorrichtungen versehen wurde und deshalb ausgetauscht werden muss. In der Ära Mitterand war die neue Opéra National als „Volksoper“ konzipiert worden: als einer der kulturellen Mittelpunkte eines modernen demokratischen Staats. Von diesem Konzept ist jetzt mehr als der Lack ab.