Lampenfieber vor dem Alltag

Subkulturelle Geheimgeschichten: Während Jörg Haider über die Abschaffung seiner Gegner nachdachte, suchten Künstler, Musiker und Philosophen beim steirischen herbst nach Möglichkeiten ästhetischer Subversion der herrschenden Geschlechterordnung  ■   Von Tobias Rapp

In Österreich herrscht Wahlkampf. Das ganze Land ist mit Wahlwerbungen zuplakatiert, und wer am vergangenen Wochenende durch die Straßen von Graz lief, auf dem Weg zur Eröffnung des „steirischen herbstes“, kam nicht nur an den Ankündigungen des eröffnenden Konzerts von Van Dyke Parks vorbei, sondern auch an denen, die für denselben Abend eine Veranstaltung von Jörg Haider auf dem Platz vor dem Rathaus annoncierten.

Die Zeitung Der Standard grüßte mit der Schlagzeile „Haider plant den Umsturz“ von den Kiosken, und auch durch die Reden vor dem Konzert geisterte Haidersches, wenn etwa ein sozialdemokratischer Kulturreferent hilflos davon sprach, der steirische herbst solle dazu beitragen, die „Kälte in der Gesellschaft“ zu mildern. Eine Rückbesinnung auf die Avantgarden sei wichtig, um der Geschichtslosigkeit der Gegenwart etwas entgegenzusetzen.

Nun gilt Van Dyke Parks selbst, spätestens seit dem sagenumwobenen Scheitern seiner Zusammenarbeit mit Brian Wilson an dem „Smile“-Album, als Avantgarde. Über die Jahre hat er ein halbes Dutzend versponnener Schallplatten herausgebracht, die sich durch alle möglichen Stile der amerikanischen Musikgeschichte bewegen und trotzdem an der Oberfläche von so einfachen Dingen wie Löchern im Dach oder dem Zigarettenrauchen handeln. Und so spielte Van Dyke Parks seine kleinen, hochkomplexen und perfekten Popsongs, als wären es Kinderlieder. Und spätestens als zum Ende eines Brian Wilson gewidmeten Stücks die Glocken der benachbarten Kapelle anfingen zu läuten, als seien sie bestellt, hatte er all die unterschiedlichen Erwartungen gebündelt und gleichzeitig gelöst.

Direkt nach diesem Konzert trat Haider auf. Ein groteskes Bild, denn das Rathaus von Graz wird gerade renoviert, die gesamte Fassade ist eingerüstet und bespannt mit Stoffbahnen, die der Karikaturist Deix mit riesigen Fenstern bemalt hat, aus denen die verschiedensten Österreicher herausschauen. Haiders Bühne stand ausgerechnet vor dieser Kulisse, seine riesige Videoleinwand schloss annähernd deckungsgleich mit einem dieser Fenster ab. Und von dieser Leinwand aus strahlte er nun über den Marktplatz, perfekt inszeniert, von Europes „Final Countdown“ und einem Videoclip anmoderiert. Als erstes grüßte Haider die zwei Dutzend Gegendemonstranten mit den Worten, sie sollten ruhig schreien. Wenn er an der Macht sei, würden sie „abgeschafft“.

Im historischen Beiseite versickernde Milieus

Vor diesem Hintergrund fand der erste Teil einer von Christoph Gurk kuratierten Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Re-Make/Re-Model: Secret Histories Of Art, Pop, Life, And The Avant-Garde“ statt. Und so vorsichtig auch mit dem Begriff Avantgarde umgegangen wurde, natürlich war diese Veranstaltung selbst Avantgarde, zumindest im Verständnis derer, die den Erfolg des steirischen herbstes an Bettenauslastung messen. „Re-Make/Re-Model“ ist dreiteilig angelegt, und für jeden Teil wurde eine Gruppe aus einer anderen Stadt beauftragt.

„Cross Gender/Cross Genre“ wurde von einer Berliner Gruppe mit Nähe zur Zeitschrift Texte zur Kunst vorbereitet, rund um Diedrich Diederichsen und einige PhilosophInnen der FU Berlin. Der zweite Teil „Dub Housing“ – für das zweite Oktoberwochende angesetzt – wird von einer Londoner Gruppe um Kodwo Eshun und anderen organisiert, die sich dem „Wire“ verpflichtet fühlen. Und der dritte Teil, „Billowy Sleeves“, wird vorbereitet von einer Chicagoer Gruppe mit Anschluss an die Zeitschrift The Baffler. Alle drei beschäftigen sich mit Subkultur-Geheimgeschichten, vergessenen Verbindungen, im historischen Beiseite versickerten Milieus oder Individuen.

Im Zentrum von „Cross Gender/Cross Genre“ stand eine Installation des Amerikaners Mike Kelley. Kelley rekonstruiert durch Interviews, Filmschnipsel, Konzertaufnahmen und Fotos ein Geflecht verschiedener Szenen, die sich zwischen Mitte der Sechziger und Anfang der Siebziger an die ästhetische Subversion der herrschenden Geschlechterordnung machten. Das Material aus New York dokumentiert Aktionen rund um die Factory Andy Warhols, das „Ridiculous Theatre“ und den Filmemacher Jack Smith, in San Francisco um die Hippie-Drag-Gruppe „The Cockettes“ und in Los Angeles im Umfeld der Groupie-Truppe „The GTOs (Girls Together Outrageously)“.

Zusammenhänge, aus denen später so unterschiedliche Popstars wie die Protopunkband New York Dolls oder der Disco-Superstar Divine hervorgehen sollten. Künstler, die heute wohl kaum noch nebeneinander in Plattenschränken zu finden sind, sich aber damals in einander verbundenen Szenen bewegten. Szenen und Milieus, deren Gemeinsamkeiten und Verbindungen der Geschichte zum Opfer fielen, und deren Rekonstruktion und Befragung sich ein Symposium widmete.

Warum ist Jack Smith etwa heute fast vollständig vergessen, obwohl er in den Sechzigern einen Gegenpart zu Warhol bildete, oder wie konnte Mick Jagger in den frühen Siebzigern so androgyn auftreten und dabei gleichzeitig so strikt hetero sein? Warum konnten Fans der New York Dolls Schwule verprügeln? Und was stellt man mit diesem Wissen heute an, wenn man keine der üblichen Verfallsgeschichten erzählen möchte, wo am Ende die Bösen gewinnen und die Guten tot und vergessen sind?

Was tun mit dem Material, das Kelleys Recherche präsentierte, wie umgehen mit diesem queeren Diskontinuum, das er auffächert, wie die Filme von Jack Smith, wo dieser Tableaus einer Sexualität zeichnet, die kein „schwul oder hetero“ kennt, sondern die Unterschiede in den verschiedenen männlichen und weiblichen Körpern verschwinden? Oder mit einer Gruppe wie den „Cockettes“, Hippie-Drags mit Bärten?

Der New Yorker Kunstkritiker Douglas Crimp versuchte, dieses historische Reservoir an queerer Sexualität gegen die Normierung der Geschlechteridentitäten in der Folge der Gay-Pride-Bewegung in Stellung zu bringen, um so eine Repolitisierung und Resexualisierung voranzutreiben. Dem folgte der Musiker und Performancekünstler Terre Thaemlitz und sein sehr persönliches Bekenntnis, dass Drag-Tragen weniger davon handle, sich in einen anderen Körper zu flüchten, sondern vielmehr davon, in schwer lösbaren Widersprüchen gefangen zu sein und zu versuchen, in diesen wenigstens gut auszusehen und das Lampenfieber vor dem Alltag zu überwinden. Oder Diederichsen, seit jeher auf der Suche nach den „secret histories“ der Subkulturen, der sich in diesem Fall mit einem Gefüge beschäftigte, das im Unterschied zum gemeinen Plattensammlerwissen seine Brisanz durch das Aufzeigen der ursprünglichen Zusammenhänge verschiedener Platten überhaupt erst erhält.

Und da waren die VeranstalterInnen selbst, Philosophen allesamt und vor allem an der Entwicklung eines genauen und trennscharfen Vokabulars interessiert, um die Debatte um Gender, Identität, die Konstruktion von Geschlecht und deren politische Implikationen voranzutreiben. Und dafür bietet sich eine Szene, die versuchte, der Dominanz der männlichen Heterosexualität etwas entgegenzusetzen, bevor die Schwulenbewegung auf den Plan trat, ja geradezu an.

Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst

Doch so gut sich diese Veranstaltung dem Ideal eines Symposiums annäherte, sich jenseits der üblichen Orte avancierten Wissens zusammenzusetzen und die verschiedenen Blicke auf die gleichen Phänomene miteinander abzugleichen, so schwierig gestaltete sich der künstlerische Update in die Neunziger. Denn wo ein Film wie Smiths „Flaming Creatures“ etwa, der fast überall wo er je aufgeführt wurde, Skandale verursachte und verboten wurde, in seiner sexuellen Uneindeutigkeit überhaupt nicht misszuverstehen war, so sehr brauchte man für die Performance von Terre Thaemlitz eine Gebrauchsanweisung. Wer die nicht hatte, hörte einfach neoexpressionistische Klaviermusik, die aus einem Rechner kam und sah dazu eine Drag-Queen auf der Bühne auf und ab spazieren, auf einen Freier warten oder besinnlich in die Gegend schauen. Dass dies nun eine Verarbeitung einer jahrelangen Beschäftigung mit dem Synthie-Pop-Künstler Gary Numan war, um das zu verstehen, musste man schon Thaemlitz' einstündigem Vortrag lauschen.

Und so war es schließlich noch einmal Parks, der zwar nicht wegen seines zweiten Vornamens Dyke eingeladen worden war, der aber trotzdem bei seinem zweiten und denkwürdigen Auftritt noch einmal all die Erwartungen zusammenführte und das Stück des amerikanischen Pianisten Gottschalk aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Worten ankündigte, dies habe Gottschalk geschrieben, als er in die Tropen gefahren sei, wo er sich in viele Menschen verliebt habe: „very transgressive, very avant-garde“.