■ Tatsächlich: In Frankreich sinkt die Arbeitslosigkeit. Aber das ist nicht das Verdienst von Premier Jospins rot-rosa-grüner Regierung
: Modell Frankreich?

Nachhaltige Lösungen des Problems hat auch der Sozialist Jospin nicht zu bieten

Die Zahlen aus dem Westen verblüffen. Allein für den Juli dieses Jahres vermeldet die rot-rosa-grüne Regierung in Paris 50.000 Arbeitslose weniger als im Vormonat. Die Franzosen kaufen mehr Autos und Computer als ihre europäischen Nachbarn, der Wohnungsbau boomt, und der Trend im Wirtschaftswachstum, das schon in den vergangenen Monaten über dem von Italien, Deutschland und Großbritannien lag, geht weiter nach oben. Sollte am Ende Frankreichs Premierminister Lionel Jospin, den deutsche und britische Sozialdemokraten bislang verächtlich gemobbt haben, der bessere Manager sein? Müssen die Schröders und Blairs ausgerechnet bei einem „Traditionslinken“, einem, der außer mit einer Grünen auch mit drei Kommunisten regiert, und der den Deutschen und den Briten „Sozialliberale“ schimpft, in die Lehre gehen?

Fest steht, dass sich die Tendenz bei der Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Frankreich gewendet hat. Nachdem sie seit Mitte der 70er-Jahre ununterbrochen angestiegen war und von Pompidou über Giscard d'Estaing bis hin zu Mitterrand alle vergeblich versucht hatten, sie einzudämmen, ist sie jetzt im Sinken begriffen. Statt über 3 Millionen sind heute „nur“ noch zwei Millionen siebenhundertsiebzigtausend Franzosen arbeitslos gemeldet. Doch diese Abnahme der Arbeitslosigkeit begann nicht erst im Juni 1997, als die rot-rosa-grüne Regierung an die Macht kam. Sondern schon im Jahr zuvor, als Frankreich noch konservativ regiert wurde und – genau wie andere europäische Länder – Anfänge einer wirtschaftlichen Erholung registrierte.

Mitte der 90er-Jahre hatte die französische Industrie begonnen, die in den 80er-Jahren versäumten Investitionen – vor allem im Elektronikbereich – mit beschleunigtem Tempo nachzuholen. Der Export und auch die Inlandsnachfrage zogen wieder an. Und als dann auch noch die Steuereinnahmen die Erwartungen überstiegen, wurde Staatspräsident Jacques Chirac übermütig: Er löste vorzeitige Parlamentsneuwahlen aus. Bekanntlich verkalkulierte sich der neogaullistische Staatschef komplett. Statt seiner eigenen Konservativen erntet die rot-rosa-grüne Regierung die Früchte des Wachstums. Der Sozialist Lionel Jospin war zur Stelle. Und er war schlau genug, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – die erklärte Hauptsorge der Franzosen – in den Mittelpunkt seiner Politik zu stellen.

Zu dem Zweck griff Jospin tief in die sozialdemokratische Werkzeugkiste. Seine Regierung verschob hunderttausende jugendliche Arbeitslose in befristete und zum überwiegenden Teil staatlich finanzierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen; überführte Langzeitarbeitslose und ältere Arbeitslose in andere statistische Kategorien; senkte die Lohnkosten; sie belohnte Einrichtung und Erhalt von Arbeitsplätzen mit Prämien und eröffnete mit der Einführung der 35-Stunden-Woche eine nie dagewesene Möglichkeit zur Flexibilisierung der Arbeitszeit. Zusätzlich förderte sie die private Nachfrage mit ein paar intelligenten Kaufkraftverstärkungen – darunter einer Reduzierung der Krankenkassenbeiträge, was unter dem Strich einem Lohngewinn von rund einem Prozent gleichkommt.

27 Monate später legt die rot-rosa-grüne Regierung Statistiken vor, wonach die Zahl der Arbeitslosen seit dem Sommer 1997 um knapp 370.000 zurückgegangen ist. Und Premierminister Jospin spricht bereits von einer Rückkehr zur „Vollbeschäftigung“ im nächsten Jahrzehnt – auch wenn Frankreich mit heute 11,2 Prozent Arbeitslosen immer noch entschieden weiter davon entfernt ist als Deutschland und Großbritannien.

Die Zahlen und der Pariser Optimismus beeindrucken – zumal diesseits des Rheins, wo sich auf dem Arbeitsmarkt weiterhin nichts Positives tut. Doch ein Blick durch das Vergrößerungsglas auf die französische Beschäftigungspolitik zeigt: Es gibt wenig Anlass, in die Lobeshymne einzustimmen.

Erste Erkenntnis: Der französische Arbeitsmarkt ist strukturell anders. Die Arbeitslosigkeit wird in Europa nur noch von Finnland und Spanien übertroffen. Die Langzeitarbeitslosigkeit – jeder zweite Arbeitslose sucht seit über einem Jahr! – und vor allem die Jugendarbeitslosigkeit – die höher ist als in allen anderen OECD-Ländern! – stellen traurige Rekorde dar. 1997 beispielsweise waren in Frankreich 800.000 Jugendliche unter 25 Jahren arbeitslos, während in Deutschland mit immerhin 24 Millionen mehr Einwohnern „nur“ 427.000 Arbeitslose derselben Altersgruppe gezählt wurden. Auch bei der Lohnhöhe schneidet Frankreich schlecht ab. Der durchschnittliche Stundenlohn liegt nicht nur weit unter dem deutschen, sondern auch unter dem der neuen Länder.

Zweite Erkenntnis: Mindestens 200.000 neue Jobs sind reine Öko-Fiktion. Sie gehören zu den insgesamt anvisierten 350.000 „emplois jeunes“ – Jugendarbeitsplätze –, die die Regierung bis zum Jahr 2002 im öffentlichen Bereich schaffen will. Die jugendlichen „Hilfserzieher“, „Hilfspolizisten“ und „Hilfssozialarbeiter“ verrichten zwar fraglos gesellschaftlich nützliche Arbeit. Doch sind ihre Stellen auf fünf Jahre befristet und zu 80 Prozent vom Staat finanziert. Nichts deutet darauf hin, dass die Träger sie anschließend in feste Stellen umwandeln werden – zumal ihre Budgets im Rahmen der Sparprogramme im öffentlichen Sektor ständig reduziert werden. Statt zur Einrichtung langfristig sicherer, tariflich bezahlter Arbeitsplätze tragen die „emplois jeunes“ eher zu einer Entwertung der traditionellen Arbeitsplätze bei. Denn die – knapp oberhalb der Armutsgrenze entlohnten – „emplois jeunes“ beweisen im täglichen Einsatz, dass Arbeitskräfte auch billiger zu haben sind – dazu noch ohne Arbeitsrecht, Kündigungsschutz und Rentenansprüche.

Dritte Erkenntnis: Die Qualität vieler Jobs sinkt. Die Franzosen finden sich immer häufiger in unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen wieder. Teilzeitjobs (ein Drittel) und befristete Arbeitsverträge (plus 15 Prozent in diesem Jahr) machen einen ständig steigenden Anteil des Arbeitsplatzangebotes aus. Auch der Anteil an Niedriglohnempfängern unter den Beschäftigten ist seit dem Amtsantritt der rot-rosa-grünen Regierung weiter gestiegen – von 8,2 Prozent im Jahr 1994 auf 12,4 Prozent im Jahr 1998.

Vierte Erkenntnis: Die Einführung der 35-Stunden-Woche hat nur knapp 90.000 neue Arbeitsplätze gebracht. Und selbst diese Information ist noch umstritten – sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften sehen die Ursache für die Neuschaffung von Arbeitsplätzen vor allen Dingen im Wirtschaftswachstum. Für sie steht fest: Die neuen Jobs wären in jedem Fall geschaffen worden.

Fünfte Erkenntnis: Statistiken lassen sich frisieren. Allein im Juli dieses Jahres „verschwanden“ 14.000 Arbeitslose ganz aus der Statistik, weil Arbeitsministerin Aubry entschieden hatte, die über 55-jährigen Arbeitslosen zu Frührentnern zu machen. Zahlreiche jüngere Langzeitarbeitslose „verschwinden“ in den Graben der Sozialhilfeempfänger, die ebenfalls nicht mehr als Arbeitslose erfasst werden. Die Hilfeleistungen an diese Gruppe von „sozial Ausgegrenzten“ sind von 1997 bis 1998 um 8,7 Prozent angestiegen – entschieden rasanter, als die Arbeitslosigkeit sank.

Viele Franzosen finden nur unsichere, schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse

Sechste Erkenntnis: Eine Beschäftigungspolitik à la Rot-Rosa-Grün ist teuer. Schon im Jahr 1997 gab der französische Staat 111 Milliarden Mark für Arbeitslosenunterstützung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aller Art, Frühverrentungen und für Subventionen und Prämien an Arbeitgeber aus. Seither sind diese Ausgaben trotz sinkender Arbeitslosigkeit weiter gestiegen – um jährlich mindestens 4 Prozent. Exakter lassen sich diese auf immer mehr verschiedene Haushaltsposten verteilten Ausgaben nicht ermitteln. Am teuersten sind die Jugendarbeitsplätze. Allein im fünften Jahr – wenn alle 350.000 besetzt sein sollen – werden sie den Staat die Kleinigkeit von 11 Milliarden Mark kosten.

Das Jobwunder von Paris bringt hunderttausenden Arbeitslosen eine vorübergehende berufliche Perspektive. Und deswegen sichert es der Pariser Regierung mit dem sozialistischen Diskurs und einer sozialdemokratischen Praxis vorerst zumindest eine breite politische Zustimmung, wie sie die Schröders und Blairs nur in ihren euphorischen Anfängen erlebt haben. Aber nachhaltige Lösungen des Problems Arbeitslosigkeit hat auch Frankreich nicht zu bieten. Die rot-rosa-grüne Regierung schiebt es wie eine Bugwelle vor sich her ins nächste Jahrtausend. Zur Nachahmung empfohlen?

Dorothea Hahn