Die Pflanzen wandern nach oben

Durch die Klimaveränderung verändert sich die Vegetation in den Alpen. In welchem Ausmaß dies geschieht, wollen Wissenschaftler jetzt untersuchen  ■   Von Urs Fitze

Auf dem Computermonitor ist das Profil eines Berges deutlich zu erkennen: eine steile Wand, gesäumt von zwei flacheren Flanken. „Es ist das topografische Modell des 3.497 Meter hohen Schrankogels in den Stubaier Alpen. Wir haben ihn so genau vermessen, dass wir hier jeden größeren Steinbrocken genau lokalisieren können“, erklärt der Hochgebirgsökologe Harald Pauli. Dazu kommen 40 repräsentativ positionierte Temperaturmessstationen, das sind kleine, programmierbare Kästchen, die seit zwei Jahren in Betrieb sind und die Temperatur permanent aufzeichnen.

Sein Kollege Michael Gottfried legt mit einem Tastendruck ein bunt geschecktes Muster über die Höhenzone von 2.800 bis 3.300 Meter. „Sie sehen hier die Verteilung der pflanzlichen Artenvielfalt, Gebiete mit geringer, mittlerer und hoher Biodiversität.“ Der Fleckenteppich besteht aus 650.000 Punkten von einem Quadratmeter Größe. Etwa 1.000 davon sind als Probeflächen von den Wissenschaftlern der Abteilung Vegetationsökologie des Wiener Universitätsinstitutes für Pflanzenphysiologie begangen, exakt lokalisiert und bezüglich des Vorkommens von Alpenpflanzen analysiert worden. Noch nie ist weltweit ein Berg dieser Höhe so exakt auf seine Flora untersucht worden.

56 Arten kommen vor in den Hochlagen am Schrankogel, eine jede auf ihre Weise angepasst an die harten Bedingungen des alpinen Klimas. Zum Beispiel der Alpenmannsschild mit seinen sternförmigen, lilafarbenen Blüten, „ein Spezialist für extreme Lagen“, wie Pauli sagt. Der Gletscherhahnenfuß übersteht gar nach einem harten Winter auch einen Sommer unter einer Schneedecke. „Alpenmannsschild und Gletscherhahnenfuß gedeihen dort am besten, wo andere Pflanzen kapitulieren müssen.“ Etwa die Krummsegge, eine der häufigsten Arten auf alpinen Rasenflächen, wo sie bis zu 70 Prozent der Biomasse ausmacht. Wo sie gehäuft vorkommt, hat der Alpenmannsschild keine Chance mehr. Nur in den Übergangszonen, den so genannten Ökotonen, gibt es eine Koexistenz.

Am Bildschirm ist ein dunkelrotes Band auf rund 2.900 Meter Höhe zu erkennen. „Hier ist die Biodiversität besonders hoch“, erläutert Gottfried, „weil sich zwei Vegetationszonen berühren und überschneiden.“ In tieferen Lagen liegt sie auf mittlerem Niveau, weiter höher ist die Artenvielfalt nur noch gering. Nun startet Gottfried eine Computersimulation, die die Veränderung der Biodiversität bei steigenden Durchschnittstemperaturen zeigt. Während bei einem halben Grad zusätzlich die Artenvielfalt eher noch zunimmt, sinkt diese bei weiter steigenden Temperaturen rapide ab: Der Ökoton löst sich auf, Stellen mit hoher Artenvielfalt beschränken sich auf Nischen mit speziellen Geländesituationen, wo Rasen bildende Arten wie die Krummsegge einen schweren Stand haben.

Das Computermodell erlaubt nicht nur Aussagen über die Entwicklung der Biodiversität, sondern auch über jene von einzelnen Pflanzenarten. So dürfte sich der Alpenmannsschild in noch höhere Regionen zurückziehen, verdrängt von Arten wie der Krummsegge. „Kritisch wird es für seltene Arten mit engem Verbreitungsgebiet vor allem auf mittelhohen Bergen, wo sie schon heute nur in der Gipfelzone vorkommen“, sagt Pauli. Dort bleibt ihnen buchstäblich nur noch der Gang in den Himmel. Nicht nur ein Artensterben ist zu befürchten, sagt Gottfried. „Unsere bisherigen Berechnungen deuten darauf hin, dass sich nicht, wie bisher angenommen, im Zuge der Klimaerwärmungen ganze Vegetationsgürtel nach oben verschieben, sondern dass jede einzelne Pflanze individuell reagiert.“ Während die Isothermen mit einem Tempo von rund 20 bis 40 Metern binnen einer Dekade sich nach oben verlagern, folgen die Pflanzen langsamer nach: mit zwischen 0 und 4 Metern, wie die Erhebungen zeigen. „So kann es passieren, dass eine Art verschwindet, ohne dass die andere schon nachrückt. Eine ökologische Lücke wäre die Folge. Und wenn der Boden nicht mehr bedeckt ist, droht verstärkte Erosion.“

Wann dieses Szenario eintritt, können die Wissenschaftler nicht sagen. „Aber eines ist heute klar: Das erwärmungsbedingte Höhersteigen von Pflanzenarten ist im Gange. Wir wissen nur nicht, wie schnell und in welchem Ausmaß. An den Kältegrenzen können wir die Auswirkungen von langfristigen Klimaveränderungen am deutlichsten erkennen, dort, wo die Vegetation auf abiotische Faktoren besonders empfindlich reagiert. Deshalb haben wir dieses aufwendige Forschungsprogramm am Schrankogel vor vier Jahren gestartet“, sagt Abteilungsleiter Professor Georg Grabherr. Noch etwas steht heute außer Zweifel: Die hochalpine Vegetation hat sich bereits im Laufe der vergangenen 150 Jahre, die im Alpenraum eine Klimaerwärmung von 1 Grad mit sich brachte, verändert. Das haben die unter Grabherrs Leitung in den Jahren 1992 und 1993 durchgeführten Untersuchungen auf 30 Alpengipfeln gezeigt. Dort liegen botanische Bestandsaufnahmen vor, die bis in die 1830er-Jahre zurückreichen. Eine erneute Begehung zu Beginn der 90er-Jahre erbrachte ein eindeutiges Resultat: „Die Artenvielfalt hat erheblich zugenommen, weil Arten von unten nachgerückt sind. Aussagen über das Ausmaß von zu erwartenden Veränderungen von Vegetationsmustern lassen sich aber damit nicht machen. Hier erwarten wir konkrete Resultate vom Schrankogel.“ Diese werden noch auf sich warten lassen. Denn die Verbreitungsgeschwindigkeit von Alpenpflanzen ist extrem langsam. Sie bewegt sich bei manchen Arten jährlich im Millimeterbereich. „Mit dem exakten Monitoring dieser langfristigen Entwicklung beschreiten wir ganz neue Pfade“, sagt Harald Pauli. Die Hochgebirgs-Ökologen haben inzwischen eine Initiative namens „Gloria“ gestartet, mit der sie ein weltumspannendes Netz ähnlicher Langzeitbeobachtungsstationen anregen. Das Interesse aus Nordamerika und Europa sei groß, sagt Pauli. Doch es gibt Grenzen. Das mussten die Österreicher selbst auf Franz-Joseph-Land erfahren. „Dort haben wir die 1996 aufgebaute Messstation seit drei Jahren nicht mehr besuchen dürfen“, erklärt der Vegetationsökologe Karl Reiter. Sie befindet sich auf militärischem Sperrgebiet in Russland.