Das Braun des Himmels

Explizite Weltbilder: John Miller koppelt Kunstproduktion, sexuelles Begehren und das Spiel mit Zitaten der Moderne. Zur Zeit widmet das Magasin in Grenoble dem US-amerikanischen Künstler eine Retrospektive  ■   Von Isabelle Graw

Der New Yorker John Miller gehört zu jenem Typus des amerikanischen Künstlers, der parallel zu seiner künstlerischen Arbeit immer auch theoretische Texte schreibt. Damit praktiziert er seit den späten 70er Jahren jenes erweiterte Verständnis von künstlerischer Kompetenz, das in Amerika heute weitgehend selbstverständlich und akzeptiert ist. In Deutschland hingegen müssen schreibende bildende Künstler immer noch damit rechnen, dass im Zuge der Textproduktion die Glaubwürdigkeit ihrer Kunst angezweifelt wird. Dafür haben amerikanische Künstler/innen häufig das Problem, dass sie der Kunstmarkt auf einen wiedererkennbaren Look verpflichtet: Eine Art ungeschriebenes Gesetz, zu dem das Werk von John Miller ein ambivalentes Verhältnis unterhält.

Auf den ersten Blick tragen seine Arbeiten, insbesondere die Objekte aus den 80er Jahren, dem Wunsch nach „Wiedererkennbarkeit“ Rechnung. Ist doch ihr auffälligstes Merkmal das zu Recht so genannte „John-Miller-Braun“ – eine braune Modelliermasse, die Gegenstände wie Bücher, Modellbaulandschaften, kleine Figuren oder dicht bepackte Reliefs förmlich überzieht. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass dieses Braun so braun gar nicht ist, weil Primärfarben eingemischt wurden.

Trotz der auffälligen Signatur hat Miller sein Publikum in regelmäßigen Abständen vor den Kopf gestoßen. Beispielsweise zeigte er unmittelbar nach einer längeren braunen Phase 1995 die dokumentarische Fotoserie „In the middle of the day“, die sich nicht mit der pastos aufgetragenen Oberfläche von „Idylle“ (1990) – einer braun überzogenen folkloristischen Szenerie – in Verbindung bringen ließ. Statt bei einer künstlerischen Konvention zu bleiben und anstelle von figurativ plötzlich abstrakt zu malen, wechselte Miller beständig die Register zwischen Folkart-Acrylbildern, Installationen mit „braun“ bekleideten Schaufensterpuppen, Bleistiftzeichnungen, besagten braunen Objekten und aktuellen computergesteuerten Game-Show-Bildern.

Wie sein Kollege Mike Kelley, mit dem er seit den frühen 80er Jahren gelegentlich in Form von gemeinsamen Ausstellungen, Gesprächen oder wechselseitig beigesteuerten Katalogtexten zusammenarbeitet, hat John Miller immer wieder Signale dafür ausgesendet, dass er sich an „modernistische Verbote“ nicht zu halten gedenkt. So finden sich neben „flachen Oberflächen“, etwa bei dem Spiegel mit braunem Pinselstrich, immer auch jene monströsen, mit Figurativität überladenen Reliefs, die an das bei den meisten Kunstkritikern verpönte Spätwerk von Robert Morris erinnern. Während Kelley mit verkürzenden Formeln wie „Arbeiterklasse“ oder „Hippieculture“ in Verbindung gebracht wurde, ließ sich die Arbeit von Miller bislang auf keinen gemeinsamen inhaltlichen Nenner bringen. Darauf spielt auch jene „braune Tür“ zu Beginn der Retrospektive in Grenoble an, die nirgendwohin führt. Einmal abgesehen davon, dass diese Tür die prinzipielle Hermetik von Kunst gewissermaßen demonstriert, ist es dieser Retrospektive zu verdanken, dass Millers spezifische „künstlerische Sensibilität“ offensichtlich wird – eine Art durchgängiges, künstlerisches Interesse. Es liegt nicht zuletzt an der nicht chronologischen Hängung, dass Verbindungslinien zwischen einzelnen Werkgruppen aufgezeigt werden, die normalerweise kaum Schnittmengen miteinander bilden. Worin könnte die Gemeinsamkeit zwischen einer Gruppe von Baseball spielenden Kinderfiguren und Fotos, die in Tauschgeschäfte verwickelte Personen zeigen, schon bestehen?

Bei aller Unterschiedlichkeit des visuellen Materials handelt es sich in beiden Fällen um eigentlich profane, harmlose Szenen, die nur allzu vertraut und deshalb „unheimlich“ im Sinne von Freud wirken. So fängt die Fotoserie „In the middle of the day“ scheinbar bedeutungslose Momente ein – Menschen, die in der Mittagspause herumschlendern, die Straße überqueren, sich unterhalten oder etwas essen. Hinter diesem Alltäglichen lauern immer Abgründe, die mal mehr und mal weniger explizit gemacht werden. So finden sich neben den erschreckend abgebrüht und erwachsen wirkenden Gesichtszügen der besagten Baseballkids auch subtilere Irritationsmomente wie in der „psychedelischen Hütte“ (1995), die zwischen „wenig spektakulär“ und „bedrohlich“ oszilliert, was mit unbestimmt sich verschmierenden Steinstrukturen und einem opaken schwarz zugemalten Fensterloch zusammenhängt. Auf der Ebene der Materialisierung, aber auch auf der von Motiven scheint es Miller auf Sexualisierung anzulegen – das Spektrum reicht dabei von eindeutig sexuell aufgeladenen Dildos bis hin zu eher unverfänglichen, nur bedingt mit sexuellem Begehren assoziierten Motiven wie dem in einer Zeichnung und einem Bild auftauchenden See, der den Himmel spiegelt.

Entscheidend bleibt, dass die sexuell expliziteren Momente die vermeintlich harmloseren affizieren, was die Gegenüberstellung unterschiedlicher Werkgruppen noch forciert. So kommt es zu dem Eindruck einer Omnipräsenz von Brauntönen, die man sogar in den Dokumentarfotos von Matsch, Baustellen oder Bäumen zu registrieren meint – Arbeiten, die eigentlich nicht mit Millers Vorliebe für die Farbe Braun in Verbindung gebracht werden.

Auch seine frühen Acrylbilder scheinen expressiv gemalte, bräunliche Zonen aufzuweisen. Und selbst die aprikosenfarbene Wandbemalung, mit der Miller einen musealen Effekt erzielt, korrespondiert aus dieser Perspektive mit der Farbe Braun. Zusammengenommen sprechen diese Zeichen für ein durchgängiges künstlerisches Interesse, das die Arbeiten von Miller leitmotivisch durchzieht: Braune Haufen verfolgen einen schließlich auf Schritt und Tritt – ob in Form eines Erdkreises, in dem wieder Dildos oder nahezu wertlose Geldscheine herumliegen oder als Bestandteil eines Boden-Stilllebens.

In seinen Texten hat Miller psychoanalytische Deutungen seiner Arbeiten vorgeschlagen. Wobei die zahlreichen „phallischen Formen“ eine psychoanalytische Auslegung natürlich auch provozieren. Wer die Farbe Braun derart expansiv einsetzt, muss mit der Assoziation „Scheiße“ rechnen. So berechtigt es sein mag, die braune Materie in Begriffen von Faeces, Fetisch oder als Beispiel für die Freudsche Gleichsetzung von Exkrementen, Geld und Kunst zu interpretieren – derartige Ansätze tendieren dazu, die ästhetische Dimension zu verfehlen.

Bezeichnenderweise ist es diese ästhetische Dimension, die Miller in seiner Retrospektive hervorhebt. Was die Präsentation betrifft, so dominieren die gestalterischen Prinzipien der Minimal Art wie Serialität oder auf den Raum bezogene Bodenplazierungen. Aber auch in den Skulpturen mit den Plastikeimern wurde ein modernistisches Farbspektrum genüsslich zelebriert. Nur dass Miller jede künstlerische Konvention mit ihrem Gegenpol konfrontiert. Für ein solches Verfahren der Kontrastierung stehen exemplarisch die am Boden liegenden Holzrahmen, die auf Robert Smithsons „Non Sites“ anspielen und die klaren, reduzierten und vermeintlich neutralen Formen der Minimal Art mit der Opulenz, Taktilität und Expressivität einer braunen Masse „auffüllen“.

In ähnlicher Weise wurde ein Kubus – Inbegriff des Modernismus – mit brauner Farbe bedeckt, was seiner Unterwerfung unter das Millersche Verfahren gleichzukommen scheint. Im selben Maße wie Miller seinen Obsessionen treu geblieben ist, sie hartnäckig über unterschiedliche Phasen hinweg verfolgt, trägt seine Arbeit immer auch der spezifischen Sprache der Kunst Rechnung. Von daher ist es naheliegend, dass die neuen Game-Show-Bilder, die auf digitaler Überarbeitung von Studiosets einer Fernsehsendung basieren, zwei verschiedene Ebenen befriedigen. Einerseits zeugen sie von einer Miller-typischen Faszination für Begehrensstrukturen und sexuelle Energien. Anderseits besitzen sie die Attraktivität eines Color Field Painting. Miller kokettiert auch bei dieser Gelegenheit mit dem Formenrepertoire des Modernismus – ein ebenfalls kontinuierlich verfolgtes Interessengebiet. Am Ende muss der ursprüngliche Eindruck von Disparatheit seinem Gegenteil weichen: Millers Blick auf die Welt scheint diese manifest oder latent zu sexualisieren. Da diese Besonderheiten in seiner Retrospektive anschaulich gemacht werden, kann man ihr ohne weiteres „Gelungenheit“ attestieren. John Miller: „Economies parallèles“. Bis 5. 9., Magasin, Grenoble