„Wir wollen später keine Toten zählen müssen“

■ Dragan Soc, Justizminister Montenegros, über gleichberechtigte Beziehungen zu Serbien, die Erfahrungen mit Milosevic und die mögliche Unvermeidbarkeit einer Sezession von Belgrad

Ein Thema bewegt in diesem Sommer die Gemüter in Montenegro: Ist die Föderation mit Serbien überhaupt noch denkbar? Die Regierung in Montenegro hat der serbischen Regierung und dem eigenen Parlament ein Grundsatzpapier vorgelegt, das die Überschift trägt: „Grundlagen für neue Beziehungen zwischen Montenegro und Serbien“. Darin enthalten sind Vorschläge für eine lockere Konföderation.

taz: Was will Ihre Regierung mit dem Grundsatzpapier erreichen?

Dragan Šoc: Unser Vorschlag soll die Voraussetzung für Beziehungen zwischen zwei gleichberechtigten Partnern schaffen. Falls Belgrad nach wie vor die Absicht hat, über Montenegros Belange zu bestimmen, ist ein Referendum über die Sezession unvermeidbar. Das ist ein Test, ob man uns als ebenbürtigen und geschätzten Partner anerkennt.

Serbien ist doch 15-mal größer als Montenegro. Ist die Forderung nach einer totalen Gleichberechtigung nicht ein wenig übertrieben?

Es ist keine Forderung, sondern ein Vorschlag. Wir wünschen uns eine Gemeinschaft zweier gleichberechtigter selbständiger Staaten, die gemeinsam ihre Interessen feststellen und verwirklichen, so wie zum Beispiel alle Staaten in der UNO gleichberechtigt sind. Das ist eine Frage der Interessen und nicht von Zahlen und Prozenten. Serbien soll abschätzen, ob es Interesse an einer solchen Gemeinschaft hat. Von Belgrad haben wir immer noch keine offizielle Antwort erhalten. Wenn wir allerdings den Vizepremier der serbischen Regierung, Vojislav Šešelj, als Sprachrohr des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloševic betrachten, müssen wir uns auf eine ablehnende Haltung einstellen. Wir haben jedoch den Eindruck, dass die demokratischen Kräfte in Serbien Verständnis für unsere Situation und unseren Vorschlag haben.

Können Sie sich überhaupt noch ein Staatsgebilde mit Miloševic an der Spitze vorstellen?

Zwischen Serbien und Montenegro kann es keine stabilen Beziehungen geben, solange Miloševic an der Macht ist. Das Grundsatzpapier unserer Regierung ist eigentlich gar nicht so sehr an ihn adressiert als an das demokratische Serbien. Wir haben schlimme Erfahrungen mit Miloševic und seinem Team gemacht. Er missbraucht seit Jahren die Armee und die Institutionen der Föderation. Die montenegrinische Regierung musste einfach reagieren, vor ihre Bürger treten und sagen, wie sie die Lage sieht und was sie erwartet.

Die Regierung in Belgrad ist äußerst nervös wegen der Demonstrationen in Serbien. Ist der Zeitpunkt, den Sie für die Umbildung Jugoslawiens gewählt haben, nicht gefährlich?

Wir sind uns dessen bewusst, dass Miloševic unsere Vorlage missbrauchen könnte, um von seiner Niederlage im Kosovo und den innerserbischen Problemen abzulenken. Wir werden ihm sicher nicht mit unserer Ungeduld ermöglichen, einen neuen Konflikt zu beginnen, um damit seine Herrschaft zu verlängern. Deshalb haben wir keine festen Fristen gesetzt und ultimative Töne vermieden. Sobald Miloševic jedoch verschwunden ist, öffnen sich neue Wege für eine Reintegration. Wir sind überzeugt, im Sinne des in Sarajevo unterzeichneten Stabilitätspaktes zu handeln.

Wie stark sind eigentlich Miloševic' Anhänger in Montenegro?

Ziemlich stark. Die Duldsamkeit der montenegrinischen Regierung nach all den Attacken aus Belgrad ist gerade deshalb so groß, weil wir um jeden Preis verhindern wollen, dass in Montenegro passiert, was in Kroatien, Bosnien und im Kosovo geschehen ist. Wir wollen später keine Toten zählen müssen, wir wollen keine Blutspur hinterlassen. In der Perspektive von Jahrzehnten ist es besser, sich in Geduld zu üben.

Wenn Belgrad die montenegrinischen Vorschläge ablehnt, wird Ihre Regierung ein Referendum für die Unabhängigkeit ausschreiben. Wird das auch gegen den Willen der EU und der USA geschehen, die sich unmissverständlich gegen weitere Grenzveränderungen auf dem Balkan ausgesprochen haben?

Wir verstehen und unterstützen die Integrationspolitik des Westens. Wir haben auch die demokratischen und wirtschaftlichen Wertvorstellungen der EU übernommen. Und wir glauben, dass wir bei der internationalen Gemeinschaft Verständnis für unseren Standpunkt stoßen werden. Dafür erwarten wir aber nicht nur verbale, sondern auch konkrete materielle Hilfe.

Die Bürger, die die Ideen der Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft unterstützen, für die sich die montenegrinische Regierung einsetzt, sollen auch eine Verbesserung ihres alltäglichen Lebens erfahren. Das wäre auch das beste Argument gegen Miloševic' Anhänger in Montenegro. Reformen finanziell zu unterstützen ist im Endeffekt viel billiger, als mögliche neue Katastrophen zu sanieren, neue Flüchtlinge zu versorgen, neue Friedenskräfte entsenden zu müssen. In Montenegro kann die internationale Gemeinschaft noch rechtzeitig reagieren. Interview: Andrej Ivanji