Der Siegeszug des Kindchenschemas

Der Teenager als der Avantgardist von Geschmack und Konsum: Mit immer noch jüngeren Stars geht der Mainstream-Pop in seine Millenniumsendoffensive. Ganz nebenbei werden die letzten Bastionen des Erwachsenenempfindens geschleift  ■   Von Thomas Groß

Die Sache mit dem Busen? Erstunken und erlogen, sagt Britney Spears. Alle Teenager-Magazine dieser Welt wollten es wissen diesen Sommer, und allen hat sie das Gleiche erzählt. Niemals hätte Dad es erlaubt. Und ohne den läuft nichts, schließlich ist sie erst 17.

Amerika liebt Britney für solche Antworten – auch wenn sie offen lassen, wie der Brustumfang einer fast Volljährigen sich ohne die Zuhilfenahme plastischer Chirurgie schlagartig verdoppeln kann. Es muss sich um eine Art Spezialeffekt der Natur handeln, und für den ist die Tochter eines Bauunternehmers aus dem frommen Süden ebenso wenig verantwortlich wie für mögliche Nebenwirkungen betreffs ihrer Lieder. „Hit me, Baby“ lautet die viel diskutierte Zeile ihres aktuellen Hits „... Baby, One More Time“. Sollte es hier am Ende um Sex gehen? I wo, sagt Britney. Die Leute denken sich einfach zu viel.

Britney Spears spielt das alte Spiel von Anreiz und Dementi, ohne das Jugendkulturen auch nach der x-ten sexuellen Revolution nicht auskommen, doch sie vollbringt dabei ein neuartiges Kunststück. Britney's World ist nicht einfach die Welt Dr. Sommers, in der schwellende Körperteile unter der Extrembeobachtung Pubertierender stehen, Penisse stets zu klein und Brüste zu groß sind oder umgekehrt. Her heart belongs to Daddy, aber Dad hat Britney auch auf dem Cover des „Rolling Stone“ gesehen, wo sie in Hot Pants und Wonderbra auf satiniertem Laken posierte, die Hand am weißen Tastentelefon, mit dem Mutter sonst den Pizzamann bestellt. Seither hat die ganze Familie ein blitzsauberes neues Sex-Symbol, und Pamela Anderson kann erst mal baden gehen.

Allseitiges Andeuten bei gleichzeitiger Selbstzensur und größtmöglichem Zielgruppen-Crossover – mit diesem Rezept geht die Popkultur in ihre Millenniumsendoffensive. Nicht nur die „Teen Queen“ Britney hat so den Durchbruch geschafft, Teenie-Pop ist in den USA gerade dabei, auf breiter Front in die Geschmacksdomänen der Erwachsenenkultur einzubrechen. Die Backstreet Boys und 'N Sync, vor kurzem noch als Plastikpopper belächelt, laufen plötzlich auf Radiokanälen für Mittzwanziger, während sie die vorderen Plätze nicht nur der Teenybopper-Charts belegen. Dahinter liegt bereits die nächste Produktgeneration, Projekte mit Namen wie 98 Degrees, 702 oder B*Witched. Immer ist die Formel die gleiche: Lieder von Liebe, Leidenschaft, Romantik, sportiv vorgetragen und mit einer gut dosierten Portion Schwüle versetzt. Heranwachsende können darin ihre Sehnsüchte wiedererkennen, Erwachsene, wenn sie wollen, mehr.

Doch wollen sie das überhaupt? Eine gewisse Sex-Müdigkeit hat – vielleicht auch als Folge des Clinton-Skandals – das Land befallen. Vor wenigen Jahren noch wäre es undenkbar gewesen, dass Eltern und Kinder sich einen Star teilen, inzwischen ist der aus den Sechzigern herüberschallende Ruf nach Sex, Drogen und Rock 'n' Roll emotional ausgezehrt, der Generationskonflikt, der die Popmusik jahrzehntelang vorantrieb, ebenso gründlich kollabiert wie das Reich des Bösen im Osten. US-Amerika, immer noch das Ursprungsland für die meisten popkulturellen Trends, scheint genug zu haben von den aggressiveren Spielarten des Rock: Grunge ist so gut wie tot, Gangsta-HipHop hat rückläufige Konjunktur, gefragt ist ein Konsens, der in manchem an die fünfziger Jahre erinnert und sich – bloß kein Brusthaar, bloß keine schlechten Zähne! – auch im Revival des Kinderstars spiegelt.

Sehnsucht nach Unschuld spricht daraus, eine Regression der Hörer. Die neuen Stars wirken, als wohnten sie allesamt noch zu Hause, auch aus pragmatischen Gründen. Übereinstimmend geben sie zu Protokoll, dass Sex auf der Prioritätenliste ziemlich weit unten steht, zunächst kommen Erfolg und Karriere, gelegentlich Gott. Auch physiognomisch geht der Trend zum Kindchenschema. Immer niedlicher werden die Protagonisten: Auf die süßen Hanson-Brüder folgten die noch jüngeren, noch süßeren Moffatts. Vor zwei Jahren wurde mit Aaron Carter, dem kleinen Bruder von Backstreet-Boy Nick, gar ein Neunjähriger ins Rennen geschickt. Den ganz großen Hit hat er bislang nicht gelandet, doch pünktlich zum Kinostart der neuen, noch kinderfreundlicheren Star-Wars-Episode ist er zurück: mit Strähnchenfrisur und Glitzeranzug.

Der Teen als Avantgardist von Geschmack und Konsum – die Demografen haben ihn vorausgesehen. In den USA soll sich der Teenager-Anteil an der Bevölkerung in der kommenden Dekade von 29 auf 36 Millionen steigern. Schon jetzt ist, als Spätfolge des Baby-Booms der Nachkriegsjahre, eine kritische Masse erreicht, die Jungen und Mädchen zwischen 13 und 19 für die Branche attraktiv macht. Entsprechend konsequent sind die Produkte zugeschnitten, auf Fernsehausstrahlung, Merchandizing und andere Nebenrechte hin angelegt. Alles, was Britney Spears trägt – vom Babydoll bis zum Sonnentop – lässt sich mailordern, die jüngste Star-Wars-Episode, in der ein Kind sich anschickt, die Welt zu retten, ist ohnehin ein kaum verhohlener Merchandising-Feldzug.

Und das Know-how wächst bei allen Beteiligten exponential zum kommerziellen Erfolg. Sowohl die Backstreet Boys als auch 'N Sync und Britney Spears entstammen ein und derselben Hitfabrik in Orlando, Florida, deren Hauptsonglieferant ein Mann namens Max Martin ist, ein Schwede, der von Abba über Prince und Madonna bis hin zu Motown und Eurobeat alles, aber wirklich alles auf Rhythm 'n' Blues-Basis sauber verschweißt. Vom gesanglichen Part her wirken seine Stücke, als würden hypersexualisierte Geschlechtslose mit hochverdichtender Vocalsoftware George Michael imitieren, der sich Mühe gibt, wie Stevie Wonder zu klingen. Aber wer außer einigen Alten merkt das noch in diesen Zeiten extrem minimierter Aufmerksamkeitsspannen? Die Synthesen sind global geworden, die überlieferten Distinktionen dagegen zusammengestürzt. Dass in Orlando auch Disneyworld seine größte Dependance hat, ist dabei mehr als ironische Fußnote. Nach einer Reihe von Siegen bei Talentwettbewerben sammelte Britney Spears im „Mickey Mouse Club“, der Kindersendung des Disneykanals, wertvolle Showerfahrung – als „Mouseketeer“.

„Ich wusste schon sehr früh, auf was es ankam“, sagt sie heute. Äußerungen wie diese haben den Reporter des amerikanischen „Rolling Stone“, der die Lolita der Stunde in ihrem bonbonfarbenen Zuhause besucht hat, zu der These getrieben, im zeitgenössischen Teenie-Pop würde der Rock 'n' Roll kastriert, ganz ähnlich wie damals, als Elvis von Mainstreamsternchen wie Bobby Vee und Frankie Avalon ins Familiäre übersetzt wurde.

So pessimistisch muss man den Aufstieg der neuen Heldinnen und Helden nicht interpretieren. Britney Spears ist auch als Spätfolge Madonnas verstehbar, ein Material Girl, das seine Lektion gelernt hat und schon mit 17 erfolgreich anwendet, was ältere Rollenmodelle erst mühsam durchsetzen mussten. Pubertierende Mädchen mögen darin die Umrisse einer erfolgsgeküssten großen Schwester erkennen. Auch die Boygroups, so holzschnittartig ihre Charaktere wirken (meist bloß eine Eigenschaft pro Boy), sind ideale Oberflächen, unter denen sich Teenage-Unsicherheiten verstecken lassen. Sozialpsychologisch gesehen erfüllen sie eine Funktion, die unter weniger industriellen Bedingungen Teddybären, Comicfiguren und andere Maskottchen eingenommen haben: Sie sind Übergangsobjekte, Stützen im komplizierten Prozess des Erwachsenwerdens.

Allerdings haben Britney & Co. in all ihrer koketten Unschuld auch einen Aspekt von Gnadenlosigkeit. „... Baby One More Time“ lässt sich – Techno-Crossover! – als CD-Rom in den Computer einspeisen. Bilder einer amerikanischen Mustertochter erscheinen auf dem Schirm: Britney als 10-jährige „Miss Talent USA“, Britney als High-School-Queen, Britney, wie sie trainiert und fortlaufend Triumphe feiert. Neuerdings macht sie in US-Magazinen sogar Werbung für Milch, das Getränk der gesunden Jugend. Nie würde so ein Girl eine härtere Droge als Kaugummi in den Mund nehmen, schon weil das dem Teint schadet. Es ist die heile Welt der Cheerleaderinnen und Sportskanonen, die hier als beste aller möglichen Welten projiziert wird. Hinter ihnen steht eine Elternschaft, die Loser und andere Delinquenten in der Familie ungern duldet.

Die aber produziert dieses Regime der Schönsten und Athletischsten eben auch. Dylan Klebold und Eric Harris, die jugendlichen Amokläufer von Littleton, trieb rasender Hass auf blonde, durchtrainierte Mitschüler an. Es entschuldigt nicht ihre Tat, doch von Britney's World aus betrachtet wird doppelt deutlich, warum Schockrocker Marylin Manson für sie der Gegen-Teenage-Hero war. Wer nicht mithalten kann, landet in Amerika schnell auf der dunklen Seite.