Pferderennbahn statt warmer Klassenzimmer

■ Laut einem Bericht sollen bosnische Spitzenpolitiker internationale Hilfsgelder in Milliardenhöhe veruntreut haben. Beschuldigte sehen sich als Opfer einer Kampagne

Als Erster der bei der finanziellen Hilfe für Bosnien-Herzegowina beteiligten Staaten kündigte die Schweiz gestern Konsequenzen an. Am Vorabend war bekannt geworden, dass Vertreter aller drei ethnischen Volksgruppen in Bosnien seit dem Dayton-Abkommen vom Dezember 1995 rund 1 Milliarde US-Dollar (1,8 Mrd. Mark) an internationalen Hilfsgeldern veruntreut haben sollen. Nach Auskunft des Entwicklungshilfeministeriums in Bern drohte die Schweizer Botschaft in Sarajevo der bosnischen Präsidentschaft die Einschränkung der Zusammenarbeit an, falls der Korruptionsfall bei der Bosnien-Herzegowina Bank (BiH) nicht aufgeklärt wird. Bei dieser Bank hatte die Schweiz für den Wiederaufbau bestimmte 1,5 Millionen Schweizer Franken (1,8 Mio. Mark) deponiert.

Auf Konten der BiH befanden sich auch die Hilfsgelder neun weiterer Regierungen sowie zahlreicher humanitärer Organisationen. Insgesamt 20 Millionen Dollar (36 Mio. Mark) dieser ausländischen Einlagen hatten die beiden Bankbesitzer durch Überweisungen an fiktive Betriebe sowie persönliche Kredite an Freunde veruntreut. Die BiH stellte wegen Zahlungsunfähigkeit ihre Tätigkeit ein.

Die Schilderung des BiH-Skandals sowie 219 weiterer Fälle von Betrug, Unterschlagung und Veruntreuung mit einem Gesamtschaden von 1,8 Milliarden Mark findet sich in dem 4.000-seitigen Bericht einer Sonderkommission zur Untersuchung von Korruptionsfällen. Die Kommission wurde vom bisherigen Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Sarajevo, dem Spanier Carlos Westendorp eingesetzt, dessen Posten Anfang August der Österreicher Wolfgang Petrisch übernahm. Offiziell wird der Bericht noch geheim gehalten, einige Kopien gelangten jedoch an Journalisten. Von den Mitgliedern der Sonderkommission ist nur bekannt, dass es sich fast ausschließlich um US-Experten handelt.

Laut dem Bericht sind neben der BiH auch weitere 43 der insgesamt 50 bosnischen Banken pleite in Folge von Veruntreuung der auf ihren Konten eingezahlten Gelder. In vielen der 220 Korruptionsfälle werden die Namen der mutmaßlichen Täter angegeben. Wo nicht, lassen zahlreiche Details Rückschlüsse auf die Identität der Verantwortlichen zu.

Allein den Bürgermeister der Stadt Sanski Most, Mehmed Alagic, beschuldigt der Bericht der Korruption in 358 Fällen. Unter anderem soll Alagic 450.000 US-Dollar Hilfsgelder aus Saudi-Arabien, die für den Wiederaufbau der Landwirtschaft bestimmt waren, gestohlen und seinem Bruder für die Gründung einer Bank gegeben haben. Der Bürgermeister hat die Vorwürfe zurückgewiesen und das Büro des Hohen Repräsentanten in Sarajevo beschuldigt, eine Kampagne gegen ihn zu führen. Internationale Hilfsorganisationen waren laut Bericht sehr verwundert, dass in Sanski Most städtische Haushaltsmittel – die zum Teil aus ausländischen Hilfszahlungen stammen – zum Bau einer Pferderennbahn verwendet wurden.

Im nordbosnischen Tuzla wurden allein in diesem Jahre 200 Millionen US-Dollar veruntreut, zusätzlich zu 300 Millionen in den letzten beiden Jahren. Tuzlas Stadtverwaltung habe die örtlichen Schulgebäude allein 1998 viermal frisch steichen lassen, obwohl sie zuvor von internationalen Hilfsorganisationen renoviert und gestrichen worden waren, heißt es in dem Bericht. Bereichert hätten sich lokale Firmen, die von der Stadtverwaltung ein Mehrfaches der üblichen Malerlöhne erhalten hätten, sowie städtische Angestellte, die billig erworbene Farbe auf den lokalen Märkten mit Gewinn wieder verkauft hätten. Zugleich fehlten in zahlreichen Schulen immer noch Heizungen.

Offen der Korruption beschuldigt wird Bakir Izetbegovic, Sohn des muslimischen Mitglieds und derzeitigen Vorsitzenden im Staatspräsidium, Alija Izetbegovic. „Alles Lügen, in die Welt gesetzt, um unserem Land zu schaden“, sagte der amtierende Staatspräsident. Bosniens UNO-Botschafter in New York, Muhamed Sacirbey, ging nicht so weit, bemühte sich aber, die Brisanz des Berichts herunterzuspielen.

Der Untersuchungsbericht steht zwar in scharfem Kontrast zu der positiven Lageeinschätzung, mit der sich Westendorp Ende Juli aus seinem Amt als Hoher Repräsentant verabschiedet hatte. Doch für unabhängige Beobachter ist der Bericht keine Überraschung.

Auch knapp vier Jahre nach dem Dayton-Abkommen sind wesentliche seiner politischen und wirtschaftlichen Bestimmungen nicht durchgesetzt: die Rückkehr von über 1,5 Millionen überwiegend muslimischen Flüchtlingen. Sie konnten bisher wegen des Widerstandes lokaler Behörden nicht an ihre Vorkriegswohnorte zurückkehren; die internationale Gemeinschaft hat diese Rückkehr nicht durchgesetzt. Weiterhin haben in den meisten Städten und Dörfern VertreterInnen der drei nationalen bis nationalistsichen Parteien das Sagen und sichern sich durch Korruption die wirtschaftlichen Pfründen.

Die Privatisierung der Wirtschaft ist bisher ausgeblieben. In den meisten wirtschaftlich überhaupt noch aktiven Betrieben verhindern Vorkriegskader die Privatisierung sowie die Tätigkeit unabhängiger Gewerkschaften. Bosnien hängt weiter fast vollständig am Tropf der internationalen Gemeinschaft – ein Kartenhaus, das sofort einstürzt, wenn die internationalen Zahlungen eingestellt und die internationalen Organsiationen das Land verlassen würden.

Andreas Zumach, Genf